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Stellenkommentar GT 12, KSA 1, S. 83 251

83, 8-10 Dies ist der neue Gegensatz: das Dionysische und das Sokratische,
und das Kunstwerk der griechischen Tragödie ging an ihm zu Grunde.] An dieser
Stelle bietet die Vorstufe folgende Erörterung:
Wenn man genau zu erfahren vermag, wie und woran ein Ding zu Grunde geht, so erfährt
man fast auch, wie es entstanden ist. Deshalb ist es nöthig, nachdem bisher von der
Geburt der Tragoedie und des tragischen Gedankens die Rede war, auch zur Vergleichung
jene andere lehrreiche Seite hinzuzuziehen und zu fragen, wie die Tragödie und der tragi-
sche Gedanke untergiengen. Damit werden wir zugleich unsrer angedeuteten Aufgabe
entgegen geführt, welche von uns noch die Darlegung der Doppelnatur des Dionysisch-
Apollinischen an der Form der Tragödie selbst verlangt. War nämlich das Dionysisch-
Apollinische das die Form Bestimmende am Kunstwerk der Tragödie - in gleicher Weise
wie dies zuletzt von der tragischen Maske erwiesen wurde - so muß der Tod der Tragödie
aus der Lösung jener Urkräfte zu erklären sein: wobei jetzt die Frage entsteht, welches
die Macht war, die diese Urkräfte von einander lösen konnte. Ich habe bereits gesagt, daß
diese Macht der Sokratismus war (KSA 14, 51-52 f.).
83,14-16 dass Euripides zur Strafe von den Kunstrichtern aller Zeiten in einen
Drachen verwandelt worden ist] Der ,Drache4 spielt auf die Verwandlung des
Kadmos in einen Drachen an (Bakchen, V. 1330 f.). Vgl. den Kommentar zu
82, 28. Keineswegs haben die „Kunstrichter aller Zeiten“ den Euripides negativ
beurteilt; mit wenigen Ausnahmen, zu denen gerade der von N. herangezogene
Aristophanes und in dessen Gefolge August Wilhelm Schlegel gehören, schät-
zen im Gegenteil schon viele ,Kunstrichter4 der Antike, so Quintilian, den Euri-
pides besonders hoch. In der Neuzeit gehören zu den prominenten ,Kunstrich-
tern4, die Euripides rühmen, Wieland, Lessing und Goethe. Selbst A. W.
Schlegel, eine der wichtigsten Quellen für N. und auch schon für die von ihm
benutzte philologische Literatur des 19. Jahrhunderts, hatte trotz seiner Abnei-
gung gegen Euripides immerhin erwähnt, daß auch in der Moderne viele den
Euripides hochgehalten haben: „Wie wohl die Neueren nicht selten den Euripi-
des seinen beiden Vorgängern vorgezogen, ihn mehr als diese gelesen, bewun-
dert und nachgeahmt haben, sei es nun, daß sie durch die größere Verwandt-
schaft der Ansichten und Gesinnungen angezogen oder durch einen
mißverstandenen Ausspruch des Aristoteles [der in seiner Poetik, 1453a 29 f.,
den Euripides den „tragischsten“ (TpayiKCOTOtTÖc; ye tcüv noipTtüv) unter den
Dichtern genannt hatte] irre geleitet wurden“ (August Wilhelm Schlegel, Kriti-
sche Schriften und Briefe, hg. von Edgar Löhner, Bd. V, 1: Vorlesungen über
dramatische Kunst und Literatur, Stuttgart usw. 1966, S. 102).
Für N.s tendenziöses Verfahren ist es bezeichnend, daß er die von A. W.
Schlegel noch erwähnte, wenn auch nicht akzeptierte positive Rezeption des
Euripides ausblendet und wider besseres Wissen nur die negativen Beurteilun-
gen zur Sprache bringt. Noch in den Aufzeichnungen zu seiner Tragödienvorle-
 
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