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258 Die Geburt der Tragödie

85,11-15 Was wir im Vergleich mit der sophokleischen Tragödie so häufig dem
Euripides als dichterischen Mangel und Rückschritt anzurechnen pflegen, das ist
zumeist das Product jenes eindringenden kritischen Prozesses, jener verwegenen
Verständigkeit.] In seiner Tragödienvorlesung vom Sommersemester 1870 mar-
kierte N. noch stärker die historische Perspektive (KGW II 3, 42 f.): „Mit Eurip.
entsteht ein Bruch in der Tragödienentwicklung: derselbe der um diese Zeit
sich in allen Formen des Lebens zeigt. Eine mächtige Aufklärung will die Welt
nach dem Gedanken umändern; jedes Bestehende wird einer zersetzenden
Kritik unterworfen: zersetzend, weil der Gedanke noch einseitig entwickelt ist.
Die Tragiker, die immer sich als Lehrer des Volks betrachtet haben, vermitteln
diese neue Bildung dem Volke. Den Anstoß giebt Euripides, der zunächst als
Einzelner, ähnlich wie Socrates, gegen die Volksgunst anschwimmt, endlich
sie erobert. Die Trag, des Eurip. ist der Gradmesser des ethisch-politisch
aesthetischen Denkens jener Zeit: im Gegensatz zu der triebartigen Entwick-
lung der älteren Kunst, die bei Soph. ihr Ende nimmt. Soph. ist die Übergangs-
gestalt; das Denken bewegt sich noch auf der Bahn des Triebes, darum ist er
Fortsetzer des Aeschyl. Mit Eurip. entsteht ein Riß“.
85,15-17 Der euripideische Prolog diene uns als Beispiel für die Productivität
jener rationalistischen Methode.] Der euripideische Prolog bietet eine Übersicht
über die wesentlichen Konstellationen und Handlungsperspektiven, sodaß es
in dieser Hinsicht keine Überraschungen für Zuschauer und Leser geben kann.
Obwohl N. den Euripides wegen seiner „rationalistischen Methode“ grundsätz-
lich kritisiert, ist ihm doch in der folgenden exkursartigen Partie der euripidei-
sche Prolog willkommen, weil er ein gegen die Tragödien-Theorie des Aristote-
les verwendbares Argument liefert. Aristoteles hatte in seiner Poetik den
größten Wert auf die Handlung und die Handlungsstruktur gelegt. Indem der
euripideische Prolog mit seinen Vorwegnahmen die Neugier auf die Handlung
schon abfängt, kann sich das Interesse auf die rhetorisch-lyrische Gestaltung
der Szenen richten: „Zum Pathos, nicht zur Handlung bereitete Alles vor“ (85,
33 f.). Vgl. N.s Notiz vom Herbst 1869, NL 1869, KSA 7, l[101], 39, 22-40, 3:
„Euripides reflectirte: die Voraussetzungen muß jeder bereits haben, um von
vorn herein lebhaft sympathisiren zu können. Muß er sie sich langsam aus-
und zusammenrechnen, so geht das Gefühl inzwischen verloren: und was
schlimmer ist, er verrechnet sich vielleicht. Darum der Prolog“. Eine entspre-
chende Einschätzung des Prologs bei Euripides fand N. in dem von ihm
benutzten Grundriß der Griechischen Litteratur von Gottfried Bernhardy (Zwei-
ter Theil, Halle 1845), S. 858: „Dieser [...] Prolog verräth zwar keine feine
poetische Hand und besitzt nicht den Werth eines organischen Bindegliedes;
er ist eher der letzte gesammelte Blick, den der Tragiker auf seine Dichtung
wirft: für den Zuschauer aber, der überdies frühzeitig von den vielfachen Neue-
 
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