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Stellenkommentar GT 12, KSA 1, S. 85 259

rungen im Mythos hören mußte, hat er den Nutzen eines Summariums, wel-
ches die Fäden des verschlungenen Gewebes aufrollt und einen übersichtli-
chen Standort gewährt“.
In den Aufzeichnungen zu seiner Tragödienvorlesung im Sommersemester
1870 notierte N. (KGW II 3, 43): „Bedeutung des Prologs für die Wirkung: früher
wurde die Vorgeschichte in die Exposition verwebt, es wurde das Nothwendige
(an sich Unschöne) künstlerisch maskirt. Jetzt wurde dies als ein Programm
vorausgeschickt; erst lernte man, dann empfand man rein die Wirkung. Diesen
Sinn hat Lessing richtig erkannt u. den Euripides in Schutz genommen. Die
Exposition fehlt keineswegs; sie folgt nach dem Prolog. Ein bedeutendes Mittel,
um seine Auffassung des Stoffes allen Zuhörern zuvor festzustellen, wo er
abweicht, wo nicht“.
Mit seinem Exkurs über den euripideischen Prolog knüpft N. an eine schon
lange geführte Debatte an. Eine erste Attacke enthalten die Frösche des Aristo-
phanes (V. 1193 ff.). Eines der einflußreichsten Lexika in den letzten Jahrzehn-
ten des 18. Jahrhunderts, Johann Georg Sulzers Allgemeine Theorie der Schönen
Künste (1773/74 u. ö.), schreibt im Artikel Ankündigung (S. 145 f.): „Die Sache
hat in der That große Schwierigkeit. Denn da natürlicher Weise keine der han-
delnden Personen vorhersehen kann, was für eine Wendung, viel weniger, was
für einen Ausgang die Sachen nehmen werden, so können sie die Handlung
auch nicht bestimmt ankündigen. Hier ist sie eine noch zufällige künftige
Sache, da sie in der epischen Ankündigung, als eine schon vergangene Sache
erscheint. Es kann also im Drama weiter nichts angekündiget werden, als die
Veranlassung und der Anfang der Handlung, ihre Wichtigkeit, nebst einigen
dunkeln Vermuthungen ihres Ausganges“. Diese Argumentation wird durch die
Feststellung eingeleitet: „Die Griechen, so wie die meisten Neuern, haben den
Inhalt der Handlung durch den Anfang derselben anzukündigen gesucht.
Sophokles ist darinn am glüklichsten gewesen; dem Euripides aber hat es
damit selten geglükt“ (S. 146). Dagegen verteidigt Lessing im 48. und 49. Stück
der Hamburgischen Dramaturgie das Verfahren des Euripides. Anknüpfend an
die von ihm zitierten Ausführungen Diderots in dessen Discours sur la poesie
dramatique, den Diderot zusammen mit seinem wirkungsreichen bürgerlichen
Trauerspiel Le pere de famille 1758 veröffentlichte, erklärt er: „Unter diesen
[den Dichtern der Antike] war besonders Euripides seiner Sache so gewiß, daß
er fast immer den Zuschauern das Ziel voraus zeigte, zu welchem er sie führen
wollte. Ja, ich wäre sehr geneigt, aus diesem Gesichtspunkte die Verteidigung
seiner Prologen zu übernehmen, die den neuern Kriticis so sehr mißfallen“,
und er fährt im Widerspruch gegen einen dieser Kritiker fort: „Nein: der tra-
gischste von allen tragischen Dichtern dachte so geringschätzig von seiner
Kunst nicht; er wußte, daß sie einer weit hohem Vollkommenheit fähig wäre,
 
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