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Stellenkommentar GT 13, KSA 1, S. 88-89 275

der zweite Preis im Wettkampfe der Weisheit gebühre.] In Platons Verteidigung
des Sokrates (21a-23c) erhält Chairephon, ein Sokrates-Anhänger, der das del-
phische Orakel fragte, „ob wohl jemand weiser sei“ als Sokrates, die Auskunft,
daß niemand weiser sei. Nach langer Prüfung deutete Sokrates selbst diese
Antwort in ,sokratischer Ironie4 mit diesen Worten (21d): „Verglichen mit die-
sen Menschen [die etwas zu wissen glauben] bin ich doch weiser. Wahrschein-
lich weiß ja keiner von uns beiden etwas Rechtes; aber der glaubt, etwas zu
wissen, obwohl er es nicht weiß; ich dagegen weiß zwar auch nichts, glaube
aber auch nichts zu wissen. Um diesen kleinen Unterschied bin ich also weiser,
daß ich eben das, was ich nicht weiß, auch nicht zu wissen glaube“. Diogenes
Laertius (2, 37) zitiert die Auskunft des delphischen Orakels als „jenes wohlbe-
kannte Zeugnis der Pythia: ,An Weisheit nimmt es niemand auf mit Sokrates4“.
Ein Scholion zu den Wolken des Aristophanes (V. 144), das N. in seinen Auf-
zeichnungen zu der Vorlesung Die vorplatonischen Philosophen (WS 1869/70
u.ö., KGW II 4, 356) griechisch zitiert, lautet: „Weise ist Sophokles, weiser ist
Euripides, der weiseste von allen Menschen ist Sokrates“.
89, 10-12 Als der dritte in dieser Stufenleiter war Sophokles genannt; er, der
sich gegen Aeschylus rühmen durfte, er thue das Rechte und zwar, weil er wisse,
was das Rechte sei.] In Athenaios’ Deipnosophistai (Gastmahl der Gelehrten),
einem bunten Allerlei in Form eines Tischgesprächs (um 195 n. Chr.), das N.
in seiner persönlichen Bibliothek hatte (Lesespuren), wird der Ausspruch des
Sophokles überliefert (I 29, 22a-b; X 33, 428f-429a): „Aischylos, auch wenn du
das Richtige tust, so tust du es doch ohne es zu wissen (ovk clötoq)“. Das
Weitere ist N.s Zutat. Vgl. NK 87, 13-17.
89,16-22 Das schärfste Wort aber für jene neue und unerhörte Hochschätzung
des Wissens und der Einsicht sprach Sokrates, als er sich als den Einzigen vor-
fand, der sich eingestehe, nichts zu wissen; während er, auf seiner kritischen
Wanderung durch Athen, bei den grössten Staatsmännern, Rednern, Dichtern
und Künstlern vorsprechend, überall die Einbildung des Wissens antraf] Bisher
hatte N. Euripides und Sokrates unter dem Aspekt des Wissens und der Ratio-
nalität als Exponenten einer antidionysischen Aufklärung abgelehnt und ihnen
im Gegensatz zum tragischen Pessimismus einen flachen (Wissens-)Optimis-
mus zugeschrieben; nun aber führt er den berühmten Ausspruch des Sokrates
an, er wisse, daß er nichts wisse (zur Quelle vgl. NK 89, 5-9): das Zeugnis
einer Wissensskepsis. Demnach ist die Formulierung: „Das schärfste Wort aber
für [!] jene neue und unerhörte Hochschätzung des Wissens“ mißverständlich.
89, 22-27 Mit Staunen erkannte er, dass alle jene Berühmtheiten selbst über
ihren Beruf ohne richtige und sichere Einsicht seien und denselben nur aus
Instinct trieben. „Nur aus Instinct“: mit diesem Ausdruck berühren wir Herz und
 
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