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286 Die Geburt der Tragödie

n. Chr.). Geprägt sind diese antiken Romane durch verwickelte Liebes- und
Abenteuer-Handlungen. In Inhalt und Struktur sind sie von Platons Dialogen
denkbar weit entfernt, die auch keineswegs „für die ganze Nachwelt“ als Vor-
bild des Romans galten.
94, 8-10 als ancilla. Dies war die neue Stellung der Poesie, in die sie Plato
unter dem Drucke des dämonischen Sokrates drängte.] Im Mittelalter galt die
Philosophie als „ancilla“, als „Magd“ der Theologie. Petrus Damiani (gest.
1072) hatte die Philosophie zwar für den menschlichen Erfahrungsbereich, aber
nicht für den der Theologie vorbehaltenen Bereich des Heiligen als zuständig
bezeichnet. In diesem könne sie nur wie eine Magd eine untergeordnete, die-
nende Stellung einnehmen („quae tarnen artis humanae peritia, si quando
tractandis sacris eloquiis adhibetur, non debet ius magisterii sibimet arrogan-
ter arripere; sed velut ancilla dominae quodam famulatus obsequio subservire“;
Petrus Damiani: De omnipotentia divina, cap. 6, hg. Brezzi, Florenz 1943, S. 76).
Kant problematisiert die Vorstellung von der Philosophie als „Magd“ der Theo-
logie in seiner Spätschrift Der Streit der Fakultäten (AA 7, 28). N. überträgt
sie in einen anderen Bereich: in den des Verhältnisses von Philosophie und
Poesie.
Die Aussage über eine ähnliche, d. h. nachrangige Stellung der Poesie
gegenüber der Philosophie, die ihr Platon unter dem Einfluss des Sokrates
zugewiesen habe, bezieht sich auf die in Platons Politeia im Kontext der
Ideenlehre statuierte Rangfolge (hierzu NK 93, 9-16). Zwischen der hier zu
erläuternden Aussage und der vorangehenden Partie über die Mischformen der
kynischen Schriftsteller, Platons angeblich analoges Verfahren und die ver-
meintliche Nähe seiner Dialoge zum Roman besteht kein konzeptioneller
Zusammenhang. Maßgebend für beide Aussagekomplexe ist aber die auch in
N.s Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen enthaltene
Deklassierung Platons als eines Epigonen. Deshalb rechnet N. auch in einem
Nachlassfragment (Winter 1869/70-Frühjahr 1870) Platon dem Typus des von
ihm als dekadent begriffenen „theoretischen Menschen“ zu, als dessen Proto-
typ ihm Sokrates gilt (vgl. die Erläuterungen zu 98, 7-10). Die Nachlaßnotiz
lautet (NL 1869/1870, KSA 7, 3[50], 74, 9f.): „Entstehung der Lesepoesie,
durch Plato fixiert (durch den otvOpconoq OetüpqTiKÖq)“. Noch deutlicher ist eine
andere Notiz aus dieser Zeit, NL 1869/1870, KSA 7, 3 [94], 85, 22f.: „Plato. Der
ävqp OecüpqTiKÖq als Aufklärer und Auflöser der Natur und des Instinktes. Poe-
sie der Begriffe“. Sowohl Platons angeblich unter dem Einfluss des Sokrates
vollzogene Abwertung der Poesie wie auch die von ihm in seinen Dialogen
angeblich kultivierte Mischung poetischer Formen ist für N. ein Zeichen epigo-
naler Dekadenz. Später, in der Götzen-Dämmerung, heißt es: „Plato wirft, wie
mir scheint, alle Formen des Stils durcheinander, er ist damit ein erster deca-
 
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