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Stellenkommentar GT 14, KSA 1, S. 94 287

dent des Stils: er hat etwas Ähnliches auf dem Gewissen, wie die Cyniker, die
die satura Menippea erfanden“ (KSA 6, 155, 21-24). Dieses Dekadenzschema
geht im Hinblick auf die poetischen Formen allerdings auf Platon selbst
zurück. Dessen Spätschrift Die Gesetze (Nomoi) zeugt von einem streng norma-
tiven Denken und richtet sich gegen die Auflösungstendenzen der Zeit, zu
denen Platon auch die Überschreitung der in älterer Zeit fixierten Grenzen der
„eigenen Arten und Formen“ in der musischen Kunst rechnet (700a-b). Gerade
diese Partie dürfte N. gut gekannt haben, da sie ein wichtiges Zeugnis für die
Verbindung von Dionysos und Dithyrambos enthält.
Unter der Überschrift Philosophie als decadence. Zur Kritik des Philoso-
phen4 radikalisiert N. in einer Notiz vom Frühjahr 1888 die Abwertung Platons
als eines decadents (NL 1888, KSA 13, 14[94], 272, 3-15).
So sehr N. von Platon abrückte, weil dieser in seiner Politeia gegenüber
der Dichtung auf kritische Distanz ging, so sehr er auch deshalb Platon zum
Epigonen und später zum decadent deklarierte, stimmte er doch Platons autori-
tärer und elitärer Staatskonzeption zu, die er ebenfalls aus der Politeia kannte.
Obwohl er Platon als „Auflöser der Natur und des Instinktes“ angriff, verein-
nahmte er ihn für sein eigenes, mit einem mehrfachen Appell gerade an die
„Instinkte“ (KSA 1, 772, 25-773, 8) verbundenes militaristisches und zur „Für-
stenliebe“ (774, 13) aufrufendes Staatsideal. In der zuerst für die Tragödien-
schrift entworfenen, dann aber aus deren Zusammenhang herausgenommenen
dritten der Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern: Der griechische
Staat beruft sich N. abschließend auf Platon - nach einem Plädoyer für ein
auf Krieg angelegtes Staatswesen und nach einem Bekenntnis zu strikt antide-
mokratischen, antisozialen und rassistischen Anschauungen. „Der voll-
kommne Staat Plato’s“, schreibt er, „ist nach diesen Betrachtungen
gewiß noch etwas Größeres als selbst die Warmblütigen unter seinen Verehrern
glauben, gar nicht zu reden von der lächelnden Überlegenheitsmiene, mit der
unsre ,historisch4 Gebildeten eine solche Frucht des Alterthums abzulehnen
wissen. Das eigentliche Ziel des Staates, die olympische Existenz und immer
erneute Zeugung und Vorbereitung des Genius, dem gegenüber alles Andere
nur Werkzeuge, Hülfsmittel und Ermöglichungen sind, ist hier durch eine dich-
terische Intuition gefunden und mit Derbheit hingemalt. [...] Daß er in seinem
vollkommnen Staate nicht den Genius in seinem allgemeinen Begriff an die
Spitze stellte, sondern nur den Genius der Weisheit und des Wissens [gegen
letzteres zog N. allerdings in GT zu Felde, um es als den Gegensatz der „Kunst“
und der künstlerischen Aufgabe abzuwerten], daß er die genialen Künstler aber
überhaupt aus seinem Staate ausschloß, das war eine starre Consequenz des
sokratischen Urtheils über die Kunst, das Plato, im Kampfe gegen sich selbst,
zu dem seinigen gemacht hatte. Diese mehr äußerliche und beinahe zufällige
 
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