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288 Die Geburt der Tragödie

Lücke [!] darf uns nicht hindern, in der Gesammtconception des platonischen
Staates die wunderbar große Hieroglyphe einer tiefsinnigen und ewig zu deu-
tenden Geheimlehre vom Zusammenhang zwischen Staat und
Genius zu erkennen“ (KSA 1, 776, 13-777, 6). Jenseits von Evidenz und Argu-
mentation, aber wohl anspielend auf die in der Platon-Forschung seit jeher
bekannte Unterscheidung von exoterischer und esoterischer (geheimer) Lehre
bemüht N. eine „Geheimlehre“ oder - wie in GT, wo er das „Wunder“ beschwört -
eine „wunderbare“ Hieroglyphe. Den Hintergrund bildet Wagners monarchisti-
sche Konversion nach seinem ursprünglich sozialrevolutionären und anar-
chistischen Engagement. Nachdem er den bayerischen König Ludwig II. als För-
derer gewonnen hatte, entdeckte er seine von N. gepriesenen „monarchischen
Instinkte“ (773, 27), denen er nach dem deutschen Sieg im Krieg von 1870/71
mit seinem Kaisermarsch begeisterten musikalischen Ausdruck verlieh. Inso-
fern konnte N. im Hinblick auf Wagner den „Zusammenhang zwischen Staat
und Genius“ statuieren und diesen Text, zusammen mit den anderen Vorre-
den4, 1872 als passendes Weihnachtsgeschenk Cosima Wagner zueignen.
94, 13 In dem logischen Schematismus] Zu diesem von Schopenhauer über-
nommenen Begriff des „Schematismus“, der in 100, 33 variiert als „jener
Mechanismus der Begriffe, Urtheile und Schlüsse“ auf die Syllogistik bezogen
wird, vgl. NK 100, 29-101, 1.
94,17-21 Sokrates, der dialektische Held im platonischen Drama, erinnert uns
an die verwandte Natur des euripideischen Helden, der durch Grund und Gegen-
grund seine Handlungen vertheidigen muss und dadurch so oft in Gefahr geräth,
unser tragisches Mitleiden einzubüssen] Zwar ist Sokrates der „dialektische
Held“ in Platons Dialogen, weil er sich als überlegener Disputant erweist und
alle seine Dialogpartner entweder zur Aufgabe ihrer Positionen zwingt oder
sich, wie im Symposion, über diese Positionen zu erheben vermag; doch trifft
die Aussage über „die verwandte Natur des euripideischen Helden“ nicht zu,
denn erstens kennt Euripides nicht den Typus des überlegenen Helden, viel-
mehr inszeniert er „die Krise des Helden“ (Karl Reinhardt), und zweitens ist
das dialektische Moment, soweit es überhaupt zum Tragen kommt, in den
dramatischen Dialogen des Euripides weniger abstrakt erkenntnis- und wis-
sensbezogen als vielmehr konkret situations- und handlungsbezogen.
Mit dem „platonischen Drama“ meint N. die von Platon bevorzugte dialogi-
sche Form seiner philosophischen Schriften, die immer wieder an den im
Drama verwendeten Dialog erinnert, besonders in denjenigen Partien, in
denen die Dialogpartner in rascher Wechselrede sprechen. Das „tragische Mit-
leiden“ ist eine von den beiden Hauptwirkungen (Furcht und Mitleid), die Aris-
toteles in seiner Poetik der Tragödie zuschreibt, und zwar - im Gegensatz zu
N. - gerade der Tragödie des Euripides.
 
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