294 Die Geburt der Tragödie
zugeordnet wird; in normaler Wortstellung würde es heißen: „dass nur der
Chor als Ursache der Tragödie und des Tragischen überhaupt verstanden wer-
den kann“.
Daß am Anfang der hier zu erläuternden Partie von der „neuen sokratisch-
optimistischen Bühnenwelt“ im Gegensatz zum „Chor“ die Rede ist, erklärt
sich aus N.s problematischer Annahme, die „Bühnenwelt“, für welche nicht
der von ihm mit der Musik gleichgesetzte Chor, sondern der Dialog der Schau-
spieler, also das gesprochene Wort maßgebend ist, sei eine Ausgeburt einer
optimistisch-dialektischen Rationalität. Diese These hat die ebenfalls schon
problematische Gleichsetzung des Dialogs mit einer „Dialektik“ zur Vorausset-
zung, die N. im ganzen vorausgehenden Abschnitt als „optimistisch“ zu etiket-
tieren versucht (vgl. besonders 94, 21 f.). Erst aufgrund dieser Hilfskonstruktion
und unter der weiteren, an Schopenhauers Fundamentalpessimismus ange-
lehnten Voraussetzung, daß die Tragödie von ihrem chorischen, d. h. musikali-
schen Ursprung her pessimistisch sei, kann er auf die prinzipielle Unvereinbar-
keit von angeblich optimistischem Dialog und vermeintlich pessimistischem
Chor schließen, den er als „musikalisch-dionysischen Untergrund der Tragö-
die“ interpretiert.
In diesen Ausführungen wie schon im vorhergehenden Abschnitt vermei-
det es N., vom (als Bestandteil der Tragödie eigentlich gemeinten) Dialog zu
sprechen. Stattdessen ist immer nur von Dialektik die Rede. Dabei assoziiert
er stillschweigend den griechischen Wortsinn (öiaAEKTiKp), der aber nicht mit
dem engeren, modernen Begriff der Dialektik kongruent ist. Ganz klar dagegen
setzt N. Dialektik und Dialog in der GT-Vorstufe Socrates und die Tragoedie
ineins: „Der Sokratismus ist älter als Sokrates; sein die Kunst auflösender Ein-
fluß macht sich schon viel früher bemerklich. Das ihm eigenthümliche Element
der Dialektik hat sich bereits lange Zeit vor Sokrates in das Musikdrama einge-
schlichen und verheerend in dem schönen Körper gewirkt. Das Verderben
nahm seinen Ausgangspunkt vom Dialog. Der Dialog ist bekanntlich nicht
ursprünglich in der Tragödie“ (KSA 1, 545, 10-16).
95, 10-14 Schon bei Sophokles zeigt sich jene Verlegenheit in Betreff des
Chors - ein wichtiges Zeichen, dass schon bei ihm der dionysische Boden der
Tragödie zu zerbröckeln beginnt. Er wagt es nicht mehr, dem Chor den Hauptan-
theil der Wirkung anzuvertrauen] N.s Darstellung geht darüber hinweg, daß der
entscheidende Schritt zur Reduktion des Chors nicht erst von Sophokles, son-
dern schon von Aischylos getan wurde: Er führte einen zweiten Schauspieler
ein, sodaß der Dialog möglich wurde und anschließend expandieren konnte;
dies minderte den Anteil des Chors. Vgl. hierzu das im Überblickskommentar
zitierte klare Zeugnis des Aristoteles (S. 53). N. hat durchgehend die Tendenz,
Aischylos aus dem behaupteten Niedergangsszenario herauszuhalten, weil
zugeordnet wird; in normaler Wortstellung würde es heißen: „dass nur der
Chor als Ursache der Tragödie und des Tragischen überhaupt verstanden wer-
den kann“.
Daß am Anfang der hier zu erläuternden Partie von der „neuen sokratisch-
optimistischen Bühnenwelt“ im Gegensatz zum „Chor“ die Rede ist, erklärt
sich aus N.s problematischer Annahme, die „Bühnenwelt“, für welche nicht
der von ihm mit der Musik gleichgesetzte Chor, sondern der Dialog der Schau-
spieler, also das gesprochene Wort maßgebend ist, sei eine Ausgeburt einer
optimistisch-dialektischen Rationalität. Diese These hat die ebenfalls schon
problematische Gleichsetzung des Dialogs mit einer „Dialektik“ zur Vorausset-
zung, die N. im ganzen vorausgehenden Abschnitt als „optimistisch“ zu etiket-
tieren versucht (vgl. besonders 94, 21 f.). Erst aufgrund dieser Hilfskonstruktion
und unter der weiteren, an Schopenhauers Fundamentalpessimismus ange-
lehnten Voraussetzung, daß die Tragödie von ihrem chorischen, d. h. musikali-
schen Ursprung her pessimistisch sei, kann er auf die prinzipielle Unvereinbar-
keit von angeblich optimistischem Dialog und vermeintlich pessimistischem
Chor schließen, den er als „musikalisch-dionysischen Untergrund der Tragö-
die“ interpretiert.
In diesen Ausführungen wie schon im vorhergehenden Abschnitt vermei-
det es N., vom (als Bestandteil der Tragödie eigentlich gemeinten) Dialog zu
sprechen. Stattdessen ist immer nur von Dialektik die Rede. Dabei assoziiert
er stillschweigend den griechischen Wortsinn (öiaAEKTiKp), der aber nicht mit
dem engeren, modernen Begriff der Dialektik kongruent ist. Ganz klar dagegen
setzt N. Dialektik und Dialog in der GT-Vorstufe Socrates und die Tragoedie
ineins: „Der Sokratismus ist älter als Sokrates; sein die Kunst auflösender Ein-
fluß macht sich schon viel früher bemerklich. Das ihm eigenthümliche Element
der Dialektik hat sich bereits lange Zeit vor Sokrates in das Musikdrama einge-
schlichen und verheerend in dem schönen Körper gewirkt. Das Verderben
nahm seinen Ausgangspunkt vom Dialog. Der Dialog ist bekanntlich nicht
ursprünglich in der Tragödie“ (KSA 1, 545, 10-16).
95, 10-14 Schon bei Sophokles zeigt sich jene Verlegenheit in Betreff des
Chors - ein wichtiges Zeichen, dass schon bei ihm der dionysische Boden der
Tragödie zu zerbröckeln beginnt. Er wagt es nicht mehr, dem Chor den Hauptan-
theil der Wirkung anzuvertrauen] N.s Darstellung geht darüber hinweg, daß der
entscheidende Schritt zur Reduktion des Chors nicht erst von Sophokles, son-
dern schon von Aischylos getan wurde: Er führte einen zweiten Schauspieler
ein, sodaß der Dialog möglich wurde und anschließend expandieren konnte;
dies minderte den Anteil des Chors. Vgl. hierzu das im Überblickskommentar
zitierte klare Zeugnis des Aristoteles (S. 53). N. hat durchgehend die Tendenz,
Aischylos aus dem behaupteten Niedergangsszenario herauszuhalten, weil