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302 Die Geburt der Tragödie

die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen,
macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch
die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine
immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge,
stolz - // Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den
einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich
immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich
fiele ihm mit Demut in seine Linke, und sagte: Vater gieb! Die reine Wahrheit
ist ja doch nur für dich allein!“ (Eine Duplik, in: Gotthold Ephraim Lessing,
Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. von Wilfried Barner u.a., Bd. 8: Werke
1774-1778, hg. von Arno Schilson, Frankfurt 1989, S. 505-586, dort S. 510).
99, 9-12 jener unerschütterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden
der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Den-
ken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande
sei.] Dies ist ein früher Hauptbeleg für N.s Kritik am Logozentrismus. Sie war
schon in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts im Spannungsfeld der
Spinoza-Debatte vorformuliert worden. - Vgl. NL 1870, KSA 7, 6 [13], 134, 7f.:
„Der theoretische Mensch, unaktiv, Causalität, Genuß im logischen Erkennen“.
Später radikalisierte N. seine Rationalitätskritik gerade im Hinblick auf das
Denken am „Leitfaden der Causalität“ (vgl. auch 118,11 f.), besonders entschie-
den in dem Kapitel Die vier grossen Irrthümer der Götzen-Dämmerung (KSA 6,
88-97).
99, 12-17 Dieser erhabene metaphysische Wahn ist als Instinct der Wissen-
schaft beigegeben und führt sie immer und immer wieder zu ihren Grenzen, an
denen sie in Kunst umschlagen muss: auf welche es eigentlich, bei
diesem Mechanismus, abgesehn ist.] Richard Wagner schreibt in sei-
ner Abhandlung Das Kunstwerk der Zukunft (GSD III, 45 f.): „Die Wissenschaft
trägt somit die Sünde des Lebens, und büßt sie an sich durch ihre Selbstver-
nichtung: sie endet in ihrem reinen Gegensätze, in der Erkenntniß der Natur,
in der Anerkennung des Unbewußten, Unwillkürlichen, daher Nothwendigen,
Wirklichen, Sinnlichen [...] Ist nun die Auflösung der Wissenschaft die Aner-
kennung des unmittelbaren, sich selbst bedingenden, also des wirklichen
Lebens schlechtweg, so gewinnt diese Anerkenntniß ihren aufrichtigsten
unmittelbaren Ausdruck in der Kunst, oder vielmehr im Kunstwerk. [...] Die
Erlösung des Denkens, der Wissenschaft, in das Kunstwerk würde unmöglich
sein, wenn das Leben selbst von der wissenschaftlichen Spekulation abhängig
gemacht werden könnte. Würde das bewußte, willkürliche Denken das Leben
in Wahrheit vollkommen beherrschen [...] so wäre das Leben selbst verneint,
um in die Wissenschaft aufzugehen; und in der That hat die Wissenschaft in
ihrem überspanntesten Hochmuthe von solchem Triumphe geträumt“.
 
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