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310 Die Geburt der Tragödie

„maieutischen“ Wirkung des Sokrates auf „edle Jünglinge“ spielt N. auf die
von Sokrates selbst in Platons Theaitetos (149a-151d) dargestellte „Hebammen-
kunst“ an. Sie besteht darin, daß er im übertragenen Sinn erkennt, welche
jungen Menschen (geistig) „schwanger sind“, und ihnen entsprechende
Geburtshilfe leistet, indem er sie durch Fragen anregt. Sokrates spricht mehr-
mals von dieser seiner „Hebammenkunst“ (150b 6: Tp öe y' epp TE%vp Tpq
paiEVOEtüq; 184b 1: Tp paisvTiKp TE%vp; 210b 8: p paisvTiKp [...] Tcxvp). N.s
eigentliche Aussage-Intention wird allerdings erst im Hinblick auf den weiteren
Kontext der Partie 149a-151d des Theaitetos erkennbar. Denn nachdem sich
Sokrates dort einleitend als Sohn einer Hebamme bezeichnet hat, führt er aus,
daß Hebammen ihren Beruf erst auszuüben pflegen, wenn sie selbst nicht
mehr gebärfähig sind. Göttlich legitimiert sieht er diese Verbindung von Heb-
ammenberuf und eigener Gebärunfähigkeit durch die göttliche Jungfrau Arte-
mis, der neben anderen Funktionen auch die der Geburtshilfe zukam. Sokrates
erläutert dann, das Besondere seiner Geburtshilfe bestehe darin, daß er sie
nicht Frauen, sondern Männern angedeihen lasse, im übrigen gleiche er aber
den Geburtshelferinnen insofern, als er selber keine Weisheit gebäre, ja er geht
so weit zu sagen: „Geburtshilfe zu leisten nötigt mich der Gott, erzeugen aber
hat er mir verwehrt“ (paisvsaOai ps ö 0EÖq ävayKot^Ei, ysvväv öe änsKtoAvasv,
150c 7-8). Er selbst sei keineswegs weise (dpi öp ovv avTÖq psv ov nötvv tl
aoepöq, 150c 8-9). Vor dem Hintergrund dieses für ihn charakteristischen
Understatements (dessen Ironie N. nicht registriert) und auch vor dem Hinter-
grund eines von N. negativ gewerteten ,Sokratismus‘ erscheint die in dessen
Sphäre projizierte „Heiterkeit“ und „Daseinsseligkeit“ als eine unfruchtbare.
Wer sich auf Maieutik und Erziehung anderer verlegt, so der Gedanke, will bei
diesen die „Erzeugung des Genius“ bewirken, weil sie ihm selbst verwehrt ist.
101, 19-21 Nun aber eilt die Wissenschaft, von ihrem kräftigen Wahne ange-
spornt, unaufhaltsam bis zu ihren Grenzen, an denen ihr im Wesen der Logik
verborgener Optimismus scheitert.] Den Optimismus schreibt N. in 94, 21 f.
bereits der Dialektik zu. Es handelt sich um eine Wiederaufnahme der Leitvor-
stellungen aus 99, 12-17, die nun aber um die „Logik“, d. h. die Argumenta-
tionskunst erweitert wird, die Platon und Aristoteles weitgehend mit der »Dia-
lektik4 gleichsetzten. Sie kam bereits im Hinweis auf den „Mechanismus der
Begriffe, Urtheile und Schlüsse“ und damit auf die aristotelische Logik (vgl.
NK 100, 29-101, 1) zur Geltung, und sie wird alsbald noch einmal hervorgeho-
ben (101, 28: „wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt“).
Später kommt N. genauer auf den Konnex von Logik und Optimismus zurück
(NL 1885, KSA 11, 38[4], 598, 5-17).
N.s Vorstellung von „Wissenschaft“ beschränkt sich in der hier zu erörtern-
den Stelle im Wesentlichen auf „Dialektik“ (101, 6) und Logik, d. h. auf Struktu-
 
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