Stellenkommentar GT 15, KSA 1, S. 101-102 313
vor, indem er die „tragische Erkenntniss“ uminterpretiert. In der Fröhlichen
Wissenschaft heißt es: „so dass mir die tragische Erkenntniss wie der eigentli-
che Luxus unsrer Cultur erschien, als deren kostbarste, vornehmste, gefähr-
lichste Art Verschwendung, aber immerhin, auf Grund ihres Ueberreichthums,
als ihr erlaubter Luxus“ (FW 370, KSA 3, 619, 30-620, 1). Diese Uminterpre-
tation der „tragischen Erkenntniss“ war N. so wichtig, daß er sie, mit geringfü-
gig verändertem Wortlaut, noch in seine weitgehend aus Selbstzitaten beste-
hende Schrift Nietzsche contra Wagner aufnahm (KSA 6, 425, 4-8). Schon im
ursprünglichen Vorwort an Richard Wagner (das N. später für den Druck durch
ein neues ersetzte) war im Hinblick auf Wagners Musikdrama, das N. als Wie-
dergeburt der griechischen Tragödie verstanden wissen wollte, von den „Hoff-
nungen“ die Rede, die sich insbesondere auf den „zukünftige[n] Helde[n] der
tragischen Erkenntniß“ richten (NL 1871, KSA 7, 1[11], 353, 27f.; NL 1871, KSA 7,
1[11], 354, 11 f.).
Die Auffassung der Kunst als „Schutz und Heilmittel“ entspricht Jacob
Burckhardts Verständnis der kompensatorischen und therapeutischen Funk-
tion der Kunst. Sie ergibt sich über dem dunklen Untergrund des - auch zu
Burckhardts Überzeugungen gehörenden - Schopenhauerschen Pessimismus
und zugleich im Hinblick auf die negativ gewertete moderne Zivilisation. Die
kompensatorische Funktion der Kunst kommt bei N. alsbald in der Feststellung
einer „Kunstbedürftigkeit“ (102, 3) zum Ausdruck, die aus der „tragische[n]
Resignation“ (102, 2f.) resultiere und die er deshalb zu Beginn des nächsten
Kapitels sogar als „tragische Kunstbedürftigkeit“ bezeichnet (103, 1).
102, 9-12 Hier nun klopfen wir, bewegten Gemüthes, an die Pforten der Gegen-
wart und Zukunft: wird jenes „Umschlagen“ zu immer neuen Configurationen des
Genius und gerade des musiktreibenden Sokrates führen?] Abschließend
wird hier die zentrale Gedankenfigur des „Umschlags“ pointiert, die N. schon
in 99, 15 programmatisch formuliert. Aus einer 1871 entstandenen Nachlass-
Notiz geht hervor, daß N. sogar an ein entsprechendes Motto für die gesamte
Tragödienschrift dachte: „Anruf: ,Sokrates, treibe Musik4 als Motto“ (NL 1871,
KSA 7, 9[39], 287, 6). Die Vorstellung einer „Zukunft“, auf die Wagners Musik
hoffen läßt, dominiert die Schlußpartie von Wagners Schrift Oper und Drama
sowie, ebenfalls in leitmotivischer Wiederholung, die Schlußpartie von N.s
vierter Unzeitgemäßer Betrachtung: Richard Wagner in Bayreuth (KSA 1, 504-
510). Die Rede von „immer neuen Configurationen des Genius“ gilt zunächst
der Analogie zwischen dem „Umschlagen“ von „Wissenschaft“ in „Kunst“, das
dem Sokrates spekulativ zugeschrieben wird, und dann dem erhofften epocha-
len Umschlag von der als steril erachteten Wissenschaftskultur des 19. Jahrhun-
derts in eine schöpferisch vom „Genius“ beseelte „Kunst“. Vgl. hierzu auch
Wagners Vorgaben, zitiert in NK 99, 12-17. Tragödie und Musik repräsentieren
vor, indem er die „tragische Erkenntniss“ uminterpretiert. In der Fröhlichen
Wissenschaft heißt es: „so dass mir die tragische Erkenntniss wie der eigentli-
che Luxus unsrer Cultur erschien, als deren kostbarste, vornehmste, gefähr-
lichste Art Verschwendung, aber immerhin, auf Grund ihres Ueberreichthums,
als ihr erlaubter Luxus“ (FW 370, KSA 3, 619, 30-620, 1). Diese Uminterpre-
tation der „tragischen Erkenntniss“ war N. so wichtig, daß er sie, mit geringfü-
gig verändertem Wortlaut, noch in seine weitgehend aus Selbstzitaten beste-
hende Schrift Nietzsche contra Wagner aufnahm (KSA 6, 425, 4-8). Schon im
ursprünglichen Vorwort an Richard Wagner (das N. später für den Druck durch
ein neues ersetzte) war im Hinblick auf Wagners Musikdrama, das N. als Wie-
dergeburt der griechischen Tragödie verstanden wissen wollte, von den „Hoff-
nungen“ die Rede, die sich insbesondere auf den „zukünftige[n] Helde[n] der
tragischen Erkenntniß“ richten (NL 1871, KSA 7, 1[11], 353, 27f.; NL 1871, KSA 7,
1[11], 354, 11 f.).
Die Auffassung der Kunst als „Schutz und Heilmittel“ entspricht Jacob
Burckhardts Verständnis der kompensatorischen und therapeutischen Funk-
tion der Kunst. Sie ergibt sich über dem dunklen Untergrund des - auch zu
Burckhardts Überzeugungen gehörenden - Schopenhauerschen Pessimismus
und zugleich im Hinblick auf die negativ gewertete moderne Zivilisation. Die
kompensatorische Funktion der Kunst kommt bei N. alsbald in der Feststellung
einer „Kunstbedürftigkeit“ (102, 3) zum Ausdruck, die aus der „tragische[n]
Resignation“ (102, 2f.) resultiere und die er deshalb zu Beginn des nächsten
Kapitels sogar als „tragische Kunstbedürftigkeit“ bezeichnet (103, 1).
102, 9-12 Hier nun klopfen wir, bewegten Gemüthes, an die Pforten der Gegen-
wart und Zukunft: wird jenes „Umschlagen“ zu immer neuen Configurationen des
Genius und gerade des musiktreibenden Sokrates führen?] Abschließend
wird hier die zentrale Gedankenfigur des „Umschlags“ pointiert, die N. schon
in 99, 15 programmatisch formuliert. Aus einer 1871 entstandenen Nachlass-
Notiz geht hervor, daß N. sogar an ein entsprechendes Motto für die gesamte
Tragödienschrift dachte: „Anruf: ,Sokrates, treibe Musik4 als Motto“ (NL 1871,
KSA 7, 9[39], 287, 6). Die Vorstellung einer „Zukunft“, auf die Wagners Musik
hoffen läßt, dominiert die Schlußpartie von Wagners Schrift Oper und Drama
sowie, ebenfalls in leitmotivischer Wiederholung, die Schlußpartie von N.s
vierter Unzeitgemäßer Betrachtung: Richard Wagner in Bayreuth (KSA 1, 504-
510). Die Rede von „immer neuen Configurationen des Genius“ gilt zunächst
der Analogie zwischen dem „Umschlagen“ von „Wissenschaft“ in „Kunst“, das
dem Sokrates spekulativ zugeschrieben wird, und dann dem erhofften epocha-
len Umschlag von der als steril erachteten Wissenschaftskultur des 19. Jahrhun-
derts in eine schöpferisch vom „Genius“ beseelte „Kunst“. Vgl. hierzu auch
Wagners Vorgaben, zitiert in NK 99, 12-17. Tragödie und Musik repräsentieren