316 Die Geburt der Tragödie
versuchte N., die im endgültigen Text nicht mehr markierte Schwierigkeit zu
bewältigen. Der Ausgangspunkt ist der gleiche. Das historische Beispiel sollte
zu einer „analogen“ Erscheinung der Gegenwart führen: von der griechischen
Tragödie zu Wagners Musikdrama. Die ursprüngliche Niederschrift ist nicht
nur im Hinblick auf die Problematik des ,analogischen4 Verfahrens, sondern
auch aufgrund des argumentativen Notstands aufschlußreich, in den N. damit
gerät. Er beansprucht eine „tiefere Erkenntniß“ (288, 23 f.), aufgrund deren er
sowohl die Vergangenheit apodiktisch zum historischen „Beispiel“ machen wie
auch das Wesen der Gegenwart ohne Rücksicht auf deren „Wirklichkeit“ (288,
23) im Sinne der behaupteten Analogie formieren kann. Die „tiefere Erkennt-
niß“, die dies möglich machen soll, gründet in der zeitlos „ewigen Gültigkeit“
(288,12 f.), die „in der Form unbewußter Anschauungen“ (288,11 f.), also intui-
tiv und „instinktiv“ (288, 14) „durch die weiseste Lehrerin Natur“ (288, 14 f.)
verbürgt sein soll. Dieser „Natur“ entsprechend muß alles bisher zur griechi-
schen Tragödie Ausgeführte geradezu in „Fleisch und Blut übergegangen“ sein
(288, 9), und die „Natur“ erübrigt auch die historische Analyse und die
„Geschichtsschreibung“ (288, 28), da die Geschichte nur als „Beispiel-
sammlung“ (288, 29f.) für das von Natur aus schon Feststehende zu dienen
hat. Der Philosoph bringt dann die ihm „instinktiv“, d. h. von „Natur“ aus zur
Verfügung stehende „tiefere Erkenntniß“ in „allgemeine philosophische
Sätze“, für welche die Geschichte höchstens eine illustrierende „Beispielsamm-
lung“ bereitstellt. Damit wird auch klar, welcher Status dem ersten Satz von
Kapitel 16 grundsätzlich zukommt („An diesem ausgeführten historischen Bei-
spiel haben wir klar zu machen gesucht“, KSA 1, 23 f.).
Die hier erläuterte Anfangspartie der ursprünglichen Niederschrift läßt
erkennen, wie N. die später in GT nur en passant abgewertete „gebildete
Geschichtsschreibung“ (130, 17) einschätzt. Zudem enthält diese Partie bereits
zentrale Aspekte von UB II: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das
Leben. Sie lautet im Zusammenhang:
Wem nun die ganze, bisher in dieser Abhandlung dargelegte Kunstlehre in Fleisch und
Blut übergegangen ist: wozu vor allem gehört, daß ihre Grundlage, die Thatsache des
Dionysischen und Apollinischen, bereits in ihm, in der Form unbewußter Anschauungen,
vorhanden war - wer über die ewige Gültigkeit jener beiden Kunsttriebe und ihre noth-
wendigen Verhältnisse mit uns instinktiv d. h. durch die weiseste Lehrerin Natur belehrt
und überzeugt worden ist, der darf sich jetzt freien Blicks den analogen Erscheinungen
der Gegenwart gegenüberstellen, als ein Beschaulicher, der nichts für sich, aber für die
ganze Welt die Wahrheit will. Er hat seinen Blick bereits an einer Reihe historischer
Vergangenheiten erprobt und gekräftigt und muß nun verlangen, auch angesichts der
Wirklichkeit zu Worte kommen zu dürfen. Die Geschichte nämlich belehrt nie direkt, sie
beweist nur durch Beispiele: und auch die um uns vorhandene Wirklichkeit kann uns zu
keiner tieferen Erkenntniß verhelfen, sondern letztere nur bestätigen und exemplificiren.
versuchte N., die im endgültigen Text nicht mehr markierte Schwierigkeit zu
bewältigen. Der Ausgangspunkt ist der gleiche. Das historische Beispiel sollte
zu einer „analogen“ Erscheinung der Gegenwart führen: von der griechischen
Tragödie zu Wagners Musikdrama. Die ursprüngliche Niederschrift ist nicht
nur im Hinblick auf die Problematik des ,analogischen4 Verfahrens, sondern
auch aufgrund des argumentativen Notstands aufschlußreich, in den N. damit
gerät. Er beansprucht eine „tiefere Erkenntniß“ (288, 23 f.), aufgrund deren er
sowohl die Vergangenheit apodiktisch zum historischen „Beispiel“ machen wie
auch das Wesen der Gegenwart ohne Rücksicht auf deren „Wirklichkeit“ (288,
23) im Sinne der behaupteten Analogie formieren kann. Die „tiefere Erkennt-
niß“, die dies möglich machen soll, gründet in der zeitlos „ewigen Gültigkeit“
(288,12 f.), die „in der Form unbewußter Anschauungen“ (288,11 f.), also intui-
tiv und „instinktiv“ (288, 14) „durch die weiseste Lehrerin Natur“ (288, 14 f.)
verbürgt sein soll. Dieser „Natur“ entsprechend muß alles bisher zur griechi-
schen Tragödie Ausgeführte geradezu in „Fleisch und Blut übergegangen“ sein
(288, 9), und die „Natur“ erübrigt auch die historische Analyse und die
„Geschichtsschreibung“ (288, 28), da die Geschichte nur als „Beispiel-
sammlung“ (288, 29f.) für das von Natur aus schon Feststehende zu dienen
hat. Der Philosoph bringt dann die ihm „instinktiv“, d. h. von „Natur“ aus zur
Verfügung stehende „tiefere Erkenntniß“ in „allgemeine philosophische
Sätze“, für welche die Geschichte höchstens eine illustrierende „Beispielsamm-
lung“ bereitstellt. Damit wird auch klar, welcher Status dem ersten Satz von
Kapitel 16 grundsätzlich zukommt („An diesem ausgeführten historischen Bei-
spiel haben wir klar zu machen gesucht“, KSA 1, 23 f.).
Die hier erläuterte Anfangspartie der ursprünglichen Niederschrift läßt
erkennen, wie N. die später in GT nur en passant abgewertete „gebildete
Geschichtsschreibung“ (130, 17) einschätzt. Zudem enthält diese Partie bereits
zentrale Aspekte von UB II: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das
Leben. Sie lautet im Zusammenhang:
Wem nun die ganze, bisher in dieser Abhandlung dargelegte Kunstlehre in Fleisch und
Blut übergegangen ist: wozu vor allem gehört, daß ihre Grundlage, die Thatsache des
Dionysischen und Apollinischen, bereits in ihm, in der Form unbewußter Anschauungen,
vorhanden war - wer über die ewige Gültigkeit jener beiden Kunsttriebe und ihre noth-
wendigen Verhältnisse mit uns instinktiv d. h. durch die weiseste Lehrerin Natur belehrt
und überzeugt worden ist, der darf sich jetzt freien Blicks den analogen Erscheinungen
der Gegenwart gegenüberstellen, als ein Beschaulicher, der nichts für sich, aber für die
ganze Welt die Wahrheit will. Er hat seinen Blick bereits an einer Reihe historischer
Vergangenheiten erprobt und gekräftigt und muß nun verlangen, auch angesichts der
Wirklichkeit zu Worte kommen zu dürfen. Die Geschichte nämlich belehrt nie direkt, sie
beweist nur durch Beispiele: und auch die um uns vorhandene Wirklichkeit kann uns zu
keiner tieferen Erkenntniß verhelfen, sondern letztere nur bestätigen und exemplificiren.