Stellenkommentar GT 18, KSA 1, S. 115-116 333
Erschien die kritisierte Kultur bisher vorwiegend als „sokratisches“ oder
„theoretisches“ Niedergangsphänomen, so versucht N. nun zunächst eine drei-
teilige Kulturklassifikation: „es giebt entweder eine alexandrinische oder eine
hellenische oder eine buddhaistische Cultur“ (116, 9 f.). Der Schwerpunkt liegt
aber auf der dem „alexandrinischen Cultur“-Typ zuzuordnenden sterilen „Wis-
senschaft“ des 19. Jahrhunderts sowie, abschließend, auf einer auch künstle-
risch entsprechend sterilen Zeit. N.s Wissenschaftsbegriff bezieht hier nicht die
großen naturwissenschaftlichen, medizinischen und technischen Fortschritte
des 19. Jahrhunderts ein. Er beschränkt sich auf die Sphäre einer historisieren-
den Bildungskultur, wie er sie alsbald auch in der zweiten der Unzeitgemäßen
Betrachtungen: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben abhandeln
wird.
115, 29 Schönheitsschleier der Kunst] Wie der Kontext ist dieser Ausdruck wie-
der von Schopenhauers Vorstellungswelt bestimmt. Für Schopenhauer bedeu-
tet die Kunst eine - wenn auch nur illusionäre - Erlösung vom unheilvollen
Willen im Medium des schönen Scheins. Zu Schopenhauers „Schleier“ der
Maja vgl. NK 28, 10 f.
115, 29 f. der metaphysische Trost] Vgl. zu dieser Vorstellung bereits NK 108,
17-22 und 115, 12-18.
116, 9f. eine alexandrinische oder eine hellenische oder eine buddhaistische
Cultur.] Die ägyptische Stadt Alexandria, eine Gründung Alexanders des Gro-
ßen, nachdem er Ägypten erobert hatte, war in hellenistischer Zeit ein Zentrum
der Wissenschaften. Berühmt war ihre riesige Bibliothek. Von den dort tätigen
zahlreichen Gelehrten leitet sich die Vorstellung einer spätzeitlichen, „alexan-
drinischen“ Wissenschaftskultur ab, die nach der großen Zeit der griechischen
Kultur das Stigma des Unschöpferischen erhielt. Mit der „hellenischen“ Cultur
meint N. diejenige des 5. Jahrhunderts v. Chr.: die Perikleische Blütezeit. Die
Vorstellung von einer „buddhaistischen Cultur“ orientiert sich an Schopen-
hauers Darstellung des „Buddhaismus“ in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille
und Vorstellung I, 4. Buch, Kap. 68, und II, 4. Buch, Kap. 48: Zur Lehre von der
Verneinung des Willens zum Leben. Die Ausführungen in Bd. I, Kap. 68 resü-
miert Schopenhauer mit folgenden Worten: „Allem Bisherigen zufolge geht die
Verneinung des Willens zum Leben, welche Dasjenige ist, was man gänzliche
Resignation oder Heiligkeit nennt, immer aus dem Quietiv des Willens hervor,
welches die Erkenntniß seines innern Widerstreits und seiner wesentlichen
Nichtigkeit ist, die sich im Leiden alles Lebenden aussprechen“ (Frauenstädt,
Bd. 2, S. 470). Den ersten Band der Welt als Wille und Vorstellung beschließt
Schopenhauer mit dem Hinweis auf das „Nirwana der Buddhaisten“, und er
fügt hinzu: „was nach gänzlicher Aufhebung des Willens übrig bleibt, ist für
Erschien die kritisierte Kultur bisher vorwiegend als „sokratisches“ oder
„theoretisches“ Niedergangsphänomen, so versucht N. nun zunächst eine drei-
teilige Kulturklassifikation: „es giebt entweder eine alexandrinische oder eine
hellenische oder eine buddhaistische Cultur“ (116, 9 f.). Der Schwerpunkt liegt
aber auf der dem „alexandrinischen Cultur“-Typ zuzuordnenden sterilen „Wis-
senschaft“ des 19. Jahrhunderts sowie, abschließend, auf einer auch künstle-
risch entsprechend sterilen Zeit. N.s Wissenschaftsbegriff bezieht hier nicht die
großen naturwissenschaftlichen, medizinischen und technischen Fortschritte
des 19. Jahrhunderts ein. Er beschränkt sich auf die Sphäre einer historisieren-
den Bildungskultur, wie er sie alsbald auch in der zweiten der Unzeitgemäßen
Betrachtungen: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben abhandeln
wird.
115, 29 Schönheitsschleier der Kunst] Wie der Kontext ist dieser Ausdruck wie-
der von Schopenhauers Vorstellungswelt bestimmt. Für Schopenhauer bedeu-
tet die Kunst eine - wenn auch nur illusionäre - Erlösung vom unheilvollen
Willen im Medium des schönen Scheins. Zu Schopenhauers „Schleier“ der
Maja vgl. NK 28, 10 f.
115, 29 f. der metaphysische Trost] Vgl. zu dieser Vorstellung bereits NK 108,
17-22 und 115, 12-18.
116, 9f. eine alexandrinische oder eine hellenische oder eine buddhaistische
Cultur.] Die ägyptische Stadt Alexandria, eine Gründung Alexanders des Gro-
ßen, nachdem er Ägypten erobert hatte, war in hellenistischer Zeit ein Zentrum
der Wissenschaften. Berühmt war ihre riesige Bibliothek. Von den dort tätigen
zahlreichen Gelehrten leitet sich die Vorstellung einer spätzeitlichen, „alexan-
drinischen“ Wissenschaftskultur ab, die nach der großen Zeit der griechischen
Kultur das Stigma des Unschöpferischen erhielt. Mit der „hellenischen“ Cultur
meint N. diejenige des 5. Jahrhunderts v. Chr.: die Perikleische Blütezeit. Die
Vorstellung von einer „buddhaistischen Cultur“ orientiert sich an Schopen-
hauers Darstellung des „Buddhaismus“ in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille
und Vorstellung I, 4. Buch, Kap. 68, und II, 4. Buch, Kap. 48: Zur Lehre von der
Verneinung des Willens zum Leben. Die Ausführungen in Bd. I, Kap. 68 resü-
miert Schopenhauer mit folgenden Worten: „Allem Bisherigen zufolge geht die
Verneinung des Willens zum Leben, welche Dasjenige ist, was man gänzliche
Resignation oder Heiligkeit nennt, immer aus dem Quietiv des Willens hervor,
welches die Erkenntniß seines innern Widerstreits und seiner wesentlichen
Nichtigkeit ist, die sich im Leiden alles Lebenden aussprechen“ (Frauenstädt,
Bd. 2, S. 470). Den ersten Band der Welt als Wille und Vorstellung beschließt
Schopenhauer mit dem Hinweis auf das „Nirwana der Buddhaisten“, und er
fügt hinzu: „was nach gänzlicher Aufhebung des Willens übrig bleibt, ist für