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336 Die Geburt der Tragödie

auch die Kultur seiner Zeit zu - gilt bei ihm für jede Kultur, also auch für die
neue tragische Kultur, die er selbst mitbegründen wollte. Vgl. hierzu das Frag-
ment einer erweiterten Form der Tragödienschrift in NK 78, 8-10. N.s entschie-
dene Ablehnung der sozialen und demokratischen Bewegungen seiner Zeit
zieht sich durch sein gesamtes Werk und entsprechend auch durch seine
Briefe. Er wußte sich damit in Übereinstimmung mit Jacob Burckhardt, mit
dem er sich in der Basler Zeit intensiv austauschte und dessen Vorlesungen er
besuchte.
Das Plädoyer für die Sklaverei, der extreme Ausdruck dieser zeitkritischen
Grundtendenz, steht im Kontext damals aktueller Entwicklungen, nachdem
Lincoln 1863 die Sklaverei in den Vereinigten Staaten rechtlich beseitigt hatte
(Verfassungszusatz 1865). 1860 gab es noch 4 Millionen schwarze Sklaven vor
allem in den Südstaaten der USA, wo sie in der Plantagenwirtschaft unter har-
ten Bedingungen unterdrückt und ausgebeutet wurden. In den englischen
Kolonien war die Sklaverei 1833 aufgehoben worden, in den französischen
Kolonien 1848, die Niederländer begannen 1863 mit der Aufhebung der Sklave-
rei, Brasilien folgte 1871-1888. Die maßgebenden deutschen Lexika (Brock-
haus, Rotteck/Welcker: Staatslexikon, Hermann Wagener: Staats und Gesell-
schaftslexikon) behandelten das Thema in eigenen Artikeln. Als Wagener im
Artikel Sklaverei seines Lexikons (Bd. 18, 1865) die Befreiung der Sklaven in
den USA registrieren konnte, stellte er bereits die gegenläufige Wirkung fest,
nämlich daß die Aufhebung der Sklaverei den „Racenhochmuth [...] gar nicht
abgeschafft, vielmehr verschärft“ habe (S. 707). N. überträgt sein Plädoyer für
die Sklaverei auf die Behandlung der europäischen Arbeiterschaft und einen
,Klassenhochmut4 im Namen der,Kultur4. In den nachgelassenen Fünf Vorreden
zu fünf ungeschriebenen Büchern ist unter dem Titel Der griechische Staat von
den „eximirten Kulturmenschen“ die Rede, um derentwillen das Sklaventum
notwendig sei; und aus der Sorge um die ,Kultur4 befürchtet N., „daß wir an
dem Mangel des Sklaventhums zu Grunde gehen werden“ (KSA 1, 769, 22 u.
769, 12 f.).
117, 19-21 wenn der Effect ihrer schönen Verführungs- und Beruhigungsworte
von der „Würde des Menschen“ und der „Würde der Arbeit“ verbraucht ist] Aus-
führlich und im Zusammenhang mit einem Plädoyer für die Sklaverei erörtert
N. die „Würde des Menschen“ und die „Würde der Arbeit“ in einem Anfang
1871 verfassten Fragment (NL 1871, KSA 7, 10[l]), besonders S. 336, 26 f. und
S. 337, 28-31. Die „Würde des Menschen“ ist ein Postulat der Aufklärung. Es
wurzelt im aufklärerischen Vernunft- und Autonomie-Denken, später im libera-
len Individualitätsdenken. „Autonomie“, so erklärt Kant, „ist [...] der Grund
der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“ (Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten. AA, Bd. 4, S. 436). Es handle sich um „die Würde eines
 
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