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Stellenkommentar GT 19, KSA 1, S. 119-120 343

119, 32-120, 5 Unsere Kunst offenbart diese allgemeine Noth: umsonst dass
man sich an alle grossen productiven Perioden und Naturen imitatorisch anlehnt,
umsonst dass man die ganze „Weltlitteratur“ zum Tröste des modernen Men-
schen um ihn versammelt und ihn mitten unter die Kunststile und Künstler aller
Zeiten hinstellt, damit er ihnen, wie Adam den Thieren, einen Namen gebe] Auch
Wagner handelt in seinen theoretischen Schriften immer wieder von der
„Noth“ der Kunst im Sinne eines defizitären oder falschen Zustands der Kunst
selbst. N. zielt hier zuerst auf das für ihn auch sonst in GT und in anderen
Schriften wichtige und von den Zeitgenossen diskutierte Problem des Epigo-
nentums (vgl. NK 75, 25-32), das nichts Eigenes, Authentisches mehr hervorzu-
bringen vermag und deshalb bloß historisierend verschiedene „Kunststile“
reproduziert. Die Anführungszeichen, in denen der Begriff „Weltlitteratur“
steht, zeigen an, daß N. diesen durch Goethe prominent gewordenen Begriff
zitatartig aufgreift. Im Gegensatz zu Goethe verleiht er ihm aber keine positive
Bedeutung. In den Gesprächen mit Eckermann konstatierte Goethe am
31. Januar 1827: „Ich sehe immer mehr [...], daß die Poesie ein Gemeingut der
Menschheit ist und daß sie überall und zu allen Zeiten in Hunderten und aber
Hunderten von Menschen hervortritt [...] Nationalliteratur will jetzt nicht viel
sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu
wirken, diese Epoche zu beschleunigen“. Für N. hingegen ist die klassifizie-
rende Sammlung von „Weltlitteratur“ Kennzeichen einer unproduktiven
Gelehrtenkultur. Die Wendung „wie Adam den Thieren“ bezieht sich auf
1. Mose 2, 19 f.
N. schließt sich mit seiner Kritik an der zeitgenössischen Mode, „Kunststile
und Künstler aller Zeiten“ zu versammeln, an Wagners Beethoven an. Darin
heißt es, unter Anführung zahlreicher illustrierender Beispiele: „Jetzt wechseln
Antike und Rococo, Gothik und Renaissance unter sich ab“, und Wagner sieht
in dem „Umsatz aller Kunststyle“ ein Zeichen gänzlicher „Originalitätslosig-
keit“ (GSD IX, 119). Vgl. auch noch JGB 223, KSA 5, 157, 2-19.
120, 6 der alexandrinische Mensch] Vgl. NK 116, 9.
19. Kapitel
Unter Heranziehung der musikhistorischen Abhandlung Die Entstehung der
Oper von Ernst Otto Lindner (vgl. NK 120, 24) skizziert N. zunächst die
Geschichte der Oper, deren Anfänge um 1600 in Italien von der Hoffnung auf
eine Wiedererweckung der griechischen Tragödie ausgingen, weil man in die-
ser die Einheit von Musik (Chor, Monodien) und Rede fand. N.s kritische Wer-
tungen entsprechen seiner bisher schon verfolgten Tendenz, das „Wort“ gegen-
 
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