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344 Die Geburt der Tragödie

über der Musik nicht in den Vordergrund treten zu lassen, weil sonst das
Rationale über das Irrational-Ursprüngliche zu siegen und damit das „dionysi-
sche“ Urelement zu entschwinden drohe. N. folgt mit seiner Ablehnung der
Oper im Grundsätzlichen Schopenhauers Darlegungen ,Zur Metaphysik des
Schönen und Aesthetik4 im Kapitel 19 seiner Parerga und Paralipomena II,
§220:
Die große Oper ist eigentlich kein Erzeugniß des reinen Kunstsinnes, vielmehr des
etwas barbarischen Begriffs von Erhöhung des ästhetischen Genusses mittelst Anhäufung
der Mittel, Gleichzeitigkeit ganz verschiedenartiger Eindrücke und Verstärkung der Wir-
kung durch Vermehrung der wirkenden Masse und Kräfte; während doch die Musik, als
die mächtigste aller Künste, für sich allein, den für sie empfänglichen Geist vollkommen
auszufüllen vermag; ja, ihre höchsten Produktionen, um gehörig aufgefaßt und genossen
zu werden, den ganzen ungetheilten und unzerstreuten Geist verlangen, damit er sich
ihnen hingebe und sich in sie versenke, um ihre so unglaublich innige Sprache ganz zu
verstehn. Statt dessen dringt man, während einer so höchst komplicirten Opern-Musik,
zugleich durch das Auge auf den Geist ein, mittelst des buntesten Gepränges, der phantas-
tischesten Bilder und der lebhaftesten Licht- und Farben-Eindrücke; wobei noch außer-
dem die Fabel des Stücks ihn beschäftigt. Durch dies Alles wird er abgezogen, zerstreut,
betäubt und so am wenigsten für die heilige, geheimnißvolle, innige Sprache der Töne
empfänglich gemacht. Also wird, durch Dergleichen, dem Erreichen des musikalischen
Zweckes gerade entgegengearbeitet. [...] Strenge genommen also könnte man die Oper
eine unmusikalische Erfindung zu Gunsten unmusikalischer Geister nennen.
Schelling rühmt in seiner Philosophie der Kunst das griechische Drama als
Gesamtkunstwerk (vgl. hierzu NK 33, 31-34, 4), um davon die moderne Oper -
wie Schopenhauer - negativ abzusetzen. Er schreibt über „das Drama des
Alterthums [...] wovon uns nur eine Karrikatur, die Oper, geblieben ist“ (Fried-
rich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Kunst, in: Sämmtliche Werke, 1.
Abtheilung, 5. Band, Stuttgart/Augsburg 1859, S. 736). Ganz dieser Vorstellung
Schellings von der Oper als einer Karikatur des antiken Dramas entsprechend
schreibt N. in dem Basler Vortrag Das griechische Musikdrama, einer Vorstufe
zu GT, „was wir heute die Oper nennen“, sei „das Zerrbild des antiken Musik-
drama’s“ (KSA 1, 516, 6f.). Zugleich aber wird erkennbar, daß eine derart
grundsätzliche Kritik der Oper mit dem Bestreben N.s konfligiert, Wagners
„Musikdramen“ mit ihrem Appell an alle Sinne und mit ihrer Mobilisierung
aller Wirkungsmöglichkeiten als maßgebende neue Schöpfungen darzustellen.
Gegen die schon in ihrem Anfangsstadium als verfehlt angesehene Ent-
wicklung der italienischen Oper setzt N. die Hoffnung auf eine „dionysische“
Wiedergeburt der Tragödie, eine deutsche Wiedergeburt, die wieder zur „dio-
nysische[n] Weisheit“ (128, 15) findet: durch die Verbindung von Scho-
penhauers Philosophie und Wagners Musik. Da die Tragödienschrift während
des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 entstand, verbindet sich diese
 
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