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356 Die Geburt der Tragödie

und zu dem hin [...] sich alle Dinge [...] bewegen“ weist besonders auf Frg. 90:
„Wechselgeschehen: des Feuers zu allen Dingen und aller Dinge zum Feuer,
wie des Goldes zu den [damit käuflichen] Dingen und der Dinge zum Gold“ -
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XPnpötTtüv xpvaöq. Außer diesen Fragmenten Heraklits kannte N. auch die stoi-
sche, zu einem wesentlichen Teil von Heraklit ausgehende, aber dessen Vor-
stellungen weiter ausbildende Feuerlehre, die er später für seinen Grundgedan-
ken der ,ewigen Wiederkehr4 heranzog. Rückblickend schrieb er im Ecce homo:
„Die Lehre von der ,ewigen Wiederkunft4, das heisst vom unbedingten und
unendlich wiederholten Kreislauf aller Dinge - diese Lehre Zarathustra’s
könnte zuletzt auch schon von Heraklit gelehrt worden sein. Zum Mindesten
hat die Stoa, die fast alle ihre grundsätzlichen Vorstellungen von Heraklit
geerbt hat, Spuren davon“ (KSA 6, 313, 7-12). Den zyklisch wiederkehrenden
Untergang der im Kosmos vorhandenen Dinge im Feuer (der zugleich eine peri-
odisch stattfindende Rückkehr ins Feuer ist) bezeichneten die Stoiker mit dem
Terminus ,Ekpyrosis4 (etwa:,Aufflammen im Feuer4,,Weltbrand4). Manche Stoi-
ker faßten diese Ekpyrosis als Katharsis auf, d. h. als reinigende Läuterung
(Stoicorum Veterum Fragmenta, collegit loannes ab Arnim, 4 Bde., Bd. I-III,
Stuttgart 1903-1905, Neudruck Stuttgart 1978; hier Bd. II, Nr. 598 und Nr. 630).
Diese Katharsis-Vorstellung übernimmt N., wenn er schreibt: „der einzig reine,
lautere und läuternde Feuergeist“.
Die am Ende einer Weltzeit stattfindende Katharsis im zerstörenden Feuer
(nüp oitexvov), auf die dann der aus dem schöpferischen Feuer (nüp texviköv)
nach diesem Reinigungsprozeß hervorgehende Beginn einer neuen Weltzeit
folgt, paßte in N.s übergreifendes Programm einer „Wiedergeburt der Tragödie“
bei Wagner. Deshalb durfte es in der Renaissance trotz dieses Begriffs keine
,Wiedergeburt4 geben, deshalb mußte vor allem die als derartige Wiedergeburt
(der antiken Tragödie) konzipierte frühe italienische Oper als Irrweg dargestellt
werden und deshalb mußte schließlich die gesamte Entwicklung der Oper vor
Wagner mit Stillschweigen übergangen werden. Anschließend assoziiert N.
Heraklits Feuer mit dem Jüngsten Gericht, in dem vor Gottes Richterstuhl die
endzeitliche Entscheidung fällt, und in einem weiteren assoziativen Sprung,
der an die Rolle des Dionysos als Kunstrichter zwischen Aischylos und Euripi-
des in den Fröschen des Aristophanes erinnert, spricht er vom „untrüglichen
Richter Dionysus“: „alles, was wir jetzt Cultur, Bildung, Civilisation nennen,
wird einmal vor dem untrüglichen Richter Dionysus erscheinen müssen“ (128,
5-7).
In UB II: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben weitet N.
seine Vision eines „Richters“, mit dem er sich selbst identifiziert, zum
„Gericht“ und zum „Richterthum“ aus, besonders nachdrücklich in KSA 1, 269,
 
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