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362 Die Geburt der Tragödie

neues Konzept verfolgt, betont er nun das im Verhältnis zum Klassizismus und
seinen Folgen ganz Andere und Neue: Die Lage wäre hoffnungslos, wenn sich
nicht nun „an einer ganz anderen, von allen Bemühungen der bisherigen Cul-
tur unberührten Seite die Pforte von selbst aufthäte - unter dem mystischen
Klange der wiedererweckten Tragödienmusik“ (131, 11-14). Die Schlußpartie
dieses Kapitels macht vollends deutlich, daß die „Wiedergeburt“ nicht nur spe-
ziell der Tragödie, sondern die umfassende „Wiedergeburt des hellenischen
Alterthums“ (131, 16) aus dem Geist des „dionysisch“ Irrationalen stattfinden
soll, und daß dieses „Wunder“ (132, 18) die ganze epigonale und ermüdete
Gegenwartskultur mit neuem Leben erfüllen werde: „Ein Sturmwind packt
alles Abgelebte, Morsche, Zerbrochne, Verkümmerte [...], glaubt mit mir an das
dionysische Leben, [...]: denn ihr sollt erlöst werden“ (132, 1-16). Hier vollzieht
sich nicht nur eine Umkodierung der Antike, sondern der „Cultur“ überhaupt
ins Irrationale und Antirationale (132, 12 f.: „Die Zeit des sokratischen Men-
schen ist vorüber“); von ferne kündigt sich auch schon der Propheten-Ton des
Zarathustra an.
129, 14-32 dass dem edelsten Bildungskampfe Goethe’s, Schiller’s [...] den
nächsten Einwirkungen jenes Kampfes, [...] auch jenen Kämpfern [...] in den ver-
schiedensten Feldlagern des Geistes] Fortführung der kriegerischen Metaphorik,
die am Ende des 16. und am Anfang des 17. Kapitels ihren ersten Höhepunkt
erreichte. Am Ende dieses 20. Kapitels nimmt N. ringkompositorisch die kriege-
rische Metaphorik nochmals auf: „Rüstet euch zu hartem Streite“ (132, 18). Die
Kampf-Rhetorik - vgl. den Überblickskommentar S. 57 - ist von der Vorstellung
eines im Namen Richard Wagners geführten Kulturkampfes bestimmt. Am
deutlichsten gibt dies die vierte der Unzeitgemäßen Betrachtungen: Richard
Wagner in Bayreuth zu erkennen:
Für uns bedeutet Bayreuth die Morgen-Weihe am Tage des Kampfes. [...] Wir sehen im
Bilde jenes tragischen Kunstwerkes von Bayreuth gerade den Kampf der Einzelnen mit
Allem, was ihnen als scheinbar unbezwingliche Nothwendigkeit entgegentritt, mit Macht,
Gesetz, Herkommen, Vertrag und ganzen Ordnungen der Dinge. Die Einzelnen können
gar nicht schöner leben, als wenn sie sich im Kampfe um Gerechtigkeit und Liebe zum
Tode reif machen und opfern. [...] Der Tag und der Kampf bricht gleich an, die heiligen
Schatten verschweben und die Kunst ist wieder ferne von uns; aber ihre Tröstung liegt
über dem Menschen von der Frühstunde her. Ueberall findet ja sonst der Einzelne sein
persönliches Ungenügen, sein Halb- und Unvermögen: mit welchem Muthe sollte er
kämpfen, wenn er nicht vorher zu etwas Überpersönlichem geweiht worden wäre! (KSA 1,
451, 10-34).
129, 16-19 dass seit jener Zeit [...] das Streben auf einer gleichen Bahn zur
Bildung und zu den Griechen zu kommen, in unbegreiflicher Weise schwächer
 
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