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380 Die Geburt der Tragödie

ven: „Und nun erleuchtete sich des Musikers Auge von innen. Jetzt warf er den
Blick auch auf die Erscheinung, die durch sein inneres Licht beschienen, in
wundervollem Reflexe sich wieder seinem Innern mittheilte. Jetzt spricht wie-
derum nur das Wesen der Dinge zu ihm“ (GSD IX, 92). In der Schrift Richard
Wagner in Bayreuth nimmt N. diese Vorstellung einer Musik auf, die „von Innen
heraus erleuchtet“, um sie im Hinblick auf die dramatische Gestaltung genauer
zu explizieren (KSA 1, 489, 6-29). Obwohl sich Wagner und N. gerne auf Goe-
thes Faust berufen, scheinen sie nicht bemerkt zu haben, daß Goethe gerade
den Topos des „inneren Lichts“ ironisiert. So läßt er den jugendlich anmaßen-
den Baccalaureus im Faust II (Zweiter Akt, Szene: Laboratorium) mit deutli-
chen Reflexen von Fichtes Subjektphilosophie, derzufolge das absolute Ich die
Welt setzt, folgendermaßen perorieren: „Die Welt, sie war nicht, eh’ ich sie
erschuf / [...] Wer, außer mir, entband euch aller Schranken / Philisterhaft
einklemmender Gedanken? / Ich aber frei, wie mir’s im Geiste spricht, / Ver-
folge froh mein innerliches Licht“ (V. 6794-6804). Und mit tragischer Ironie
läßt Goethe Faust im 5. Akt, als Faust nach dem Anhauch der „Sorge“ erblindet
ist, sagen: „Die Nacht scheint tiefer tief hereinzudringen, / Allein im Innern
leuchtet helles Licht“ (V. 11499 f.).
138, 14-17 Nimmt nun zwar auch die musikalische Tragödie das Wort hinzu,
so kann sie doch zugleich den Untergrund und die Geburtsstätte des Wortes
danebenstellen und uns das Werden des Wortes, von innen heraus, verdeutli-
chen.] Hier zeigt sich besonders deutlich, wie N. nun im Hinblick auf Wagner
aus seiner früheren Argumentation ausbricht und zugleich versucht, den
dadurch entstehenden Selbstwiderspruch zu umgehen. In den früheren Partien
hatte er ja das Vordringen des „Wortes“, des „Dialoges“ als dekadenten Abfall
vom musikalischen Ursprung der Tragödie dargestellt, obwohl mit den Chorlie-
dern und Monodien auch die „Musik“ zur Geltung kam; nun jedoch wird die
Musik als „Geburtsstätte des Wortes“ interpretiert und so das „Wort“ legiti-
miert. Während N. in der früheren Argumentation das „Wort“ als ein äußerlich
hinzukommendes fremdes Element ablehnte, versucht er es jetzt bei Wagner
als ein „innerlich“, nämlich durch die Musik „erleuchtetes“ (139,19 f.) zu recht-
fertigen. Mit dieser Konstruktion von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, für die
Wagners Schrift Oper und Drama Anhaltspunkte bot, soll der offenkundige
Selbstwiderspruch aufgehoben werden.
139, 9 Gegensatz der Erscheinung und des Dinges an sich] Zu dieser Unter-
scheidung Kants vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I,
Anhang: Kritik der Kantischen Philosophie (Frauenstädt, Bd. 2, S. 494).
139,19-22 Das Drama, das in so innerlich erleuchteter Deutlichkeit aller Bewe-
gungen und Gestalten, mit Hülfe der Musik, sich vor uns ausbreitet, als ob wir
 
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