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Stellenkommentar GT 21-22, KSA 1, S. 141-143 383

Ablehnung der „Kunstrichter“. Zugleich spielt N. hiermit auf Wagners Ableh-
nung der „Kritiker“ an. In der zweiten der Unzeitgemäßen Betrachtungen: Vom
Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben führt N. seine Auseinanderset-
zung mit der „Kritik“ und dem „Kritiker“ unter dem Aspekt der „historischen
Bildung unserer Kritiker“ fort (KSA 1, 284, 18-285, 19).
Schon die Antike kannte den „Kritiker“. „Kritikös“ nennen die Griechen
einen Richter der Literatur, wie überhaupt einen sachverständig Urteilenden.
Das lateinische Wort „criticus“ ist belegt bei Cicero (Farn. 9, 10, 1), Horaz
(Ep. 2,1, 51) und Quintilian (2,1, 4). Der Criticus wird dem Grammaticus gegen-
übergestellt als einer, der Texte und Worte auslegt. Im Humanismus
beschränkte sich die Bedeutung der Bezeichnungen ,Kritiker4 und ,Kritik4 auf
das Herausgeben und Korrigieren antiker Texte („Text-Kritik“). Scaligers Poetik
(1561) sieht es immerhin schon als Aufgabe des Criticus, die griechischen und
römischen Dichter zu vergleichen und zu beurteilen. Der für die Entwicklung
des Begriffs „Kunstrichter“ im 18. Jahrhundert entscheidende Schritt geschieht
im Frankreich des 17. Jahrhunderts: Die Kompetenz des „critique“ wird auf
den Bereich der literarischen Theorie ausgeweitet. Und die Kriterien der Kritik
werden von der in den Poetiken fixierten literarischen Theorie bestimmt. Deren
Prinzipien, insbesondere die - mit dem Anspruch der Rationalität formulier-
ten - „Regeln“, ergeben den Bewertungsmaßstab für das Kunstwerk. Die Kritik
hat hier also eine streng normative Funktion. Wer das Amt des Kritikers, des
„Kunstrichters“ ausübt, prüft lediglich nach, ob kein Verstoß gegen die prä-
skriptive Theorie vorliegt. Dies ist noch Gottscheds Verfahren in seiner Criti-
schen Dichtkunst (1730). Dagegen berufen sich die Autoren der Geniezeit auf
schöpferische Individualität und Spontaneität, und deshalb lehnen sie die aus
der normativen Poetik abgeleiteten „Regeln“, die auf die Einhaltung dieser
Regeln fixierte Kunstkritik sowie die entsprechenden „Kunstrichter“ ab. Ein
neuer Typus des Kritikers kommt auf und das Wort „Kritik“ verändert dadurch
selbst seinen Sinn: Nun erhält die von normativen Regeln befreite Subjektivität
mitsamt der Fähigkeit zum Erleben des Kunstwerks Vorrang und damit auch
die kongeniale Einfühlung in das Schaffen des Genies. Goethes Aufsatz Von
deutscher Baukunst, in dem er das Straßburger Münster als Kunstwerk „erlebt“
und einen Hymnus auf das schöpferische Genie Erwin von Steinbach
anstimmt, repräsentiert idealtypisch diese neue Art des Umgangs mit der Kunst
in der extrem subjektiven Variante des Sturm und Drang. Hier liegt eine der
Quellen für N.s Wagner-Eloge in GT.
Von besonderem Interesse für die Abwertung des „Kritikers“ ist schon das
historische Urteil mehrerer Autoren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.
In Joseph Wartons Essay on the Genius and Writings of Pope (1756), der zu den
wichtigen englischen Genie-Abhandlungen des 18. Jahrhunderts gehört und
 
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