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384 Die Geburt der Tragödie

seit der deutschen Übersetzung (1763) auch in Deutschland wirkte, heißt es am
Ende des 3. Kapitels, daß überall dort, wo sich die Kunstkritik erst einmal
etabliert habe, die außerordentlichen Werke ausgeblieben seien. So seien in
Griechenland, in Rom und auch in Frankreich nach den Poetiken des Aristote-
les, Horaz und Boileau keine bedeutenden Dichtungen mehr geschaffen wor-
den. Die wuchernde Kritik, so vermutet Warton, zeige Sterilität und Dekadenz
an. Ähnlich radikal wertet auch Diderot, selbst ein Kunstkritiker von hohem
Rang, im Jahre 1767 die Kunstkritik ab. „Wann sieht man“, so fragt er, „die
Kritiker und Grammatiker heraufkommen? Unmittelbar nach dem Jahrhundert
des Genies (,tout juste apres le siede du genie‘) [...] Das Genie schafft schöne
Werke; die Kritik stellt die Fehler fest [...] die [kritische] Methode entsteht,
wenn es keine Genies mehr gibt (,1a methode, quand il n’y a plus de genie4)“
(Salon von 1767, in: Denis Diderot, Oeuvres completes, hg. von J. Assezat et M.
Tourneux, 20 Bde, Paris 1875-1877, Bd. 11, S. 132). Wenn N. den „edler und
zarter von der Natur Befähigte [n]“ dem „kritischen Barbaren“ entgegensetzt
(144, 24-26), wenn er die „unvergleichliche Empfindung“ des „ästhetische[n]
Zuhörer [s]“ als die der Kunst einzig angemessene Rezeptionshaltung wertet
(144, 31-34), so ist dies noch ein fernes Echo jener schon im 18. Jahrhundert
geführten Debatten. Programmatisch und mit deutlicher Wagner-Imitation for-
muliert N. seine Ablehnung der Kritik in NL 1869/1870, KSA 7, 3[60], 76, 25 f.:
„Bewußte Vernichtung des Kriticismus der Kunst durch vermehrte Weihe der
Kunst.“ Den Gegensatz von „Kunst“ (Musik) und „Kritiker“ überträgt N. in
einem nachgelassenen Fragment auf die Opposition von „Leben“ und „Wissen-
schaft“: „Wir, in der höchsten Begabung der Musik, sehen darin die einzige
allgemeine Kunsthoffnung [...] damit ist der Geist der Wissenschaft unterlegen.
In allen Künsten sind wir die Kritiker: hier in der Musik sind wir noch volle
lebendige Menschen. Hier liegen alle Hoffnungen [...] Allein in der Musik sind
wir noch nicht wissenschaftliche historische Menschen [...] ein Beweis, daß
wir hier wirklich lebendig sind“ (NL 1871, KSA 7, 13[2], 372, 13-28).
Ein konkretes Motiv für die Abwertung der Kritik waren die Attacken, wel-
che der führende Musikkritiker Eduard Hanslick (vgl. NK 127, 22-27) und der
ebenfalls mit musikkritischen Schriften hervortretende und von N. in GT sogar
genannte (vgl. NK 127, 34) Otto Jahn gegen Wagner unternahmen.
In seiner von N. intensiv studierten Schrift Oper und Drama greift Wagner
die Kritik grundsätzlich an (GSD III, 226): „Das große Übel für die Kritik liegt
hierbei in ihrem Wesen selbst. Der Kritiker fühlt in sich nicht die drängende
Nothwendigkeit, die den Künstler selbst zu der begeisterten Hartnäckigkeit
treibt, in der er endlich ausruft: so ist es und nicht anders! Der Kritiker,
will er hierin dem Künstler nachahmen, kann nur in den widerlichen Fehler
der Anmaßung verfallen, d. h. des zuversichtlich gegebenen Ausspruches
 
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