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Stellenkommentar GT 23-25, KSA 1, S. 147-148 397

fen: wodurch auch die nächste Gegenwart ihnen sofort sub specie aeterni und
in gewissem Sinne als zeitlos erscheinen musste.] Die Fixierung der Griechen
auf mythische Muster gilt nur für die Tragödie, nicht für die Komödie, die
Geschichtsschreibung, die philosophischen Werke u. a. Auch entspringt sie
nicht einer unwillkürlichen Nötigung4, sondern einem konventionellen Regle-
ment, das der Identitätsbildung der Polis aufgrund des gemeinsamen mythi-
schen Erinnerungsschatzes diente.
148, 21-27 zu einem fieberhaften Suchen, das sich allmählich in ein Pandämo-
nium überallher zusammengehäufter Mythen und Superstitionen verlor [...] in
irgend einem orientalisch dumpfen Aberglauben sich völlig zu betäuben.] In der
Zeit des Hellenismus und bis in die Spätantike hinein stellten zahlreiche Sam-
melwerke die Mythen handbuchartig zusammen. Die bekanntesten Mythogra-
phen sind Apollodor, der frühere Werke dieser Art kompiliert und eine genealo-
gisch gegliederte Darstellung der griechischen Götter- und Heldensage liefert
(Apollodori Bibliotheca, wahrscheinlich 1. Jahrhundert n. Chr.), und Diodoros
aus Agyrion (Diodorus Siculus, 1. Jahrhundert v. Chr.) mit einem vielbändigen
historischen Werk (Bibliotheke historike), in dem er auch größere Partien den
mythologischen Gestalten der Griechen widmet, darunter Dionysos und Hera-
kles. Beide Werke hatte N. in seiner persönlichen Bibliothek. Das wirkungs-
reichste Kompendium antiker (Verwandlungs-)Mythen sind Ovids Metamorpho-
sen. Eine Fundgrube des antiken „Aberglaubens“ bietet die Naturgeschichte
des Plinius. Schon in der Zeit des Hellenismus wurde der Aberglaube themati-
siert. So schrieb Plutarch einen Traktat über den Aberglauben. Eine besondere
Rolle spielten die späthellenistisch-mystischen Spekulationen, die sich in zahl-
reichen abergläubischen Vorstellungen entluden. Außerdem drangen orientali-
sche Religionen, darunter der Isiskult, der Mithraskult und das Christentum,
nach Griechenland und Rom ein. Sie breiteten sich später im ganzen römi-
schen Reich aus. Daß N. sie nicht nur als „orientalisch dumpfen Aberglauben“
darstellt, sondern auch den Ausdruck „Superstitionen“ für derlei „Aberglau-
ben“ verwendet, erinnert an ein bekanntes Diktum des Tacitus, der das Chris-
tentum als „superstitio exitiabilis“ („verderblichen Aberglauben“) bezeichnet
(Annales 15, 44, 3). Explizit nennt N. Tacitus und seine Verabscheuung der
christlichen „superstitio“ in einem nachgelassenen Fragment des Jahres 1887
(NL 1887, KSA 12, 10[181], 565, 14-21).
Das spätzeitlich-enzyklopädische Bildungswesen und das „Pandämonium“
der Religionen, wie es sich besonders seit dem Hellenismus herausbildete,
empfand N. auch als einen Zug der eigenen Zeit. Analoge Diagnosen formulier-
ten zeitgenössische Schriftsteller. Flaubert inszenierte ein solches „Pandämo-
nium“ in seiner Erzählung La tentation de Saint Antoine.
 
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