Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Stellenkommentar GT 23-25, KSA 1, S. 148-149 399

Friedrich Strauß angreift. Vgl. hierzu die intensive Auseinandersetzung in der
ersten der Unzeitgemäßen Betrachtungen: David Strauss der Bekenner und der
Schriftsteller (Kapitel 6), KSA 1, 191, 23-192, 27. Die „stumpf betäubte Abkehr“
spielt auf die asketischen Bewegungen der Antike an, die von Stoa und Kynis-
mus ausgingen und die frühchristliche Tendenz zu einer prinzipiellen Abkehr
von der Welt mitbestimmten. N. sieht alle diese Erscheinungen „sub specie
saeculi“, d. h. unter dem Aspekt des Jahrhunderts, der „Jetztzeit“, gegen die
er sich zivilisationskritisch mit der Utopie eines authentischen, vom „Mythus“
getragenen Daseins auflehnt und gegen die er alsbald seine Unzeitgemäßen
Betrachtungen schreibt.
Der in Anführungszeichen gesetzte Ausdruck „Jetztzeit“ spielt auf Scho-
penhauer an, der ihn gerne verwendet. In seinen Parerga und Paralipomena
polemisiert er gegen Hegel und die Hegelianer, indem er von „der gegenwärti-
gen, geistig impotenten [...] Periode“ spricht, welche aufgrund ihrer Ge-
schichtsteleologie die Gegenwart mit dem „prätentiösen [...] Worte Jetztzeit4
bezeichnet, als wäre ihr Jetzt [...] das Jetzt, welches heranzubringen alle ande-
ren Jetzt allein dagewesen“ (PP II; Kap. 11, § 146). Schon Schopenhauer setzt
das von ihm mithin kritisch abwertend gebrauchte Wort „Jetztzeit“ in Anfüh-
rungszeichen. Er polemisiert damit indirekt gegen das ihm verhaßte Junge
Deutschland4. Einer der Protagonisten des Jungen Deutschland, Ludolf Wien-
barg, der mit Karl Gutzkow, einem anderen bekannten Vertreter dieser progres-
siv-gesellschaftskritischen Bewegung des Vormärz, die Deutsche Revue begrün-
dete, veröffentlichte ein Werk mit dem Titel Die Dramatiker der Jetztzeit (Altona
1839). Schopenhauer wollte daher mit dem Wort „Jetztzeit“ nicht nur die Ge-
schichtsteleologie seines Erzfeindes Hegel, sondern auch das Junge Deutsch-
land treffen, dem Wienbarg durch die entsprechende Widmung in seinen
Ästhetischen Feldzügen (1834) den Namen gegeben hatte. Indem N. die polemi-
sche Spitze von Schopenhauer übernimmt, bringt er also zugleich seine
eigene - an anderer Stelle auch explizit formulierte - Ablehnung des Jungen
Deutschland zum Ausdruck.
149,14-16 der deutsche Geist [...] müsse seinen Kampf mit der Ausscheidung
des Romanischen beginnen] Vgl. NK 128, 27-33. Die auch sonst immer wieder
exponierte Vorstellung eines (Kultur-)„Kampfes44 (vgl. den Kommentar zu 102,
17-21) ist hier besonders deutlich von der Aktualität des deutsch-französischen
Krieges 1870/71 und zugleich von Richard Wagners Germanentümelei
bestimmt. Seiner antiromanischen Tendenz hatte Wagner schon in der Haupt-
Schrift Oper und Drama (1851) Ausdruck verliehen. In einer nachgelassenen
Skizze N.s (NL 1870/1871/1872, KSA 7, 8[47], 241, 6-20) heißt es: „Abwertung
der unheimischen Formen: die Oper [...] Die französische Civilisation [...] Rück-
kehr zum deutschen Mythus durch Wagner. / Mit Mythus und Volkslied stürzt
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften