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Stellenkommentar GM II 1, KSA 5, S. 291 229

20. 04. 1867 (KSB 2/KGB I 2, Nr. 541, S. 214, Z. 53) benutzte N. den Ausdruck
nur an dieser Stelle. Der Begriff dürfte ihm aber schon früh geläufig gewesen
sein, etwa aus der Lektüre von Friedrich Albert Langes Geschichte des Materia-
lismus, von der N. 1887 noch eine Neuausgabe erworben hatte, und wo die
„tabula rasa" sowohl im Hinblick auf das im 17. Jahrhundert wieder aufgenom-
mene Seelenkonzept bei Aristoteles (Lange 1887, 231) als auch im Blick auf
Locke (ebd., 644) aufgerufen wird. Kuno Fischer warnt im entsprechenden,
von N. 1887 wiederholt gelesenen Band seiner Geschichte der neuern Philoso-
phie davor, Spinoza so zu verstehen, dass „der Geist das empfängliche und
bestimmbare Wesen, dagegen der Körper das bestimmende und formgebende
sei", denn ,,[d]ann wäre der menschliche Geist bei Spinoza, was er bei Locke
ist: eine tabula rasa, die von den Eindrücken des Körpers erst beschrieben und
angefüllt wird" (Fischer 1865, 2, 441). Diese Sicht sei gerade nicht zutreffend.
Wenn GM II 1 die Metapher von der „tabula rasa" bemüht, geht es nicht um
traditionelle Fragen der Erkenntnistheorie, ob also das Bewusstsein ursprüng-
lich leer sei und erst durch Sinneseindrücke einen Gehalt bekomme, sondern
um die Leistung des Vergessens, immer wieder für einen mentalen Freiraum,
für „ein wenig tabula rasa" (291, 22 f.) zu sorgen, der die „Funktionen" (291,
24) und Instanzen des Bewusstseins handlungsfähig erhält. Es geht nicht um
eine anfängliche Leerheit, sondern wiederholte Leerung des „Bewusstseins"
zwecks Lebensfähigkeit. Dieser Sprachgebrauch nimmt die „tabula rasa" als
Metapher beim Wort, denn der Ausdruck bezieht sich auf die mit Wachs über-
zogene, in der Antike gebräuchliche Schreibtafel, deren Wachsoberfläche eben
immer wieder neu geglättet, „rasiert" (rasa) werden kann. Das Wachsmodell
des Gedächtnisses ist seit Platon (vgl. Theaitetos 191c) in der europäischen Re-
flexion aufs Gedächtnis topisch; GM II 1 erinnert im selben Metaphernhorizont
daran, dass der Eindruck durch das Vergessen auch wieder ausradiert werden
kann.
291, 24-292, 4 vor Allem für die vornehmeren Funktionen und Funktionäre, für
Regieren, Voraussehn, Vorausbestimmen (denn unser Organismus ist oligar-
chisch eingerichtet) — das ist der Nutzen der, wie gesagt, aktiven Vergesslichkeit,
einer Thürwärterin gleichsam, einer Aufrechterhalterin der seelischen Ordnung,
der Ruhe, der Etiquette: womit sofort abzusehn ist, inwiefern es kein Glück, keine
Heiterkeit, keine Hoffnung, keinen Stolz, keine Gegenwart geben könnte ohne
Vergesslichkeit.] Vgl. NK 291, 8-19. N. hatte sich eingehend mit Wilhelm Roux
auseinandergesetzt, der in einer eigenständigen Adaption Darwins jeden Orga-
nismus als Kampfgeschehen verstand (Roux 1881, vgl. Müller-Lauter 1978), wo-
bei Roux gerade kein strikt hierarchisches, sondern ein agonales Verhältnis der
Teile zueinander behauptet. Die Metapher vom oligarchischen Organismus in
GM II 1 impliziert, dass wenige Funktionen die Herrschaft im Organismus
 
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