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V. v. Weizsäcker: Geleitwort zur
Das spielt sich nun so ab: das Bedürfnis, den Erscheinungen
des Lebens ein materielles Geschehen zu. unterlegen, wird zu-
nächst befriedigt durch die Vorstellung von einem Erregungsvor-
gang, der sich in der nervösen Substanz fortbewegt. Der Weg
dieser Ausbreitung auf bestimmten Bahnen liefert das einfachste
und klarste Bild; die Erregung läuft centripetal und von dort
reflektiert wieder centrifugal zum Muskel. Aber die Mannigfaltig-
keit der Tatsachen und ihrer Bedingungen zwingt bald, dieses
allzu einfache Bild zu ergänzen. Der Vorgang im Zentrum selbst
muß doch komplizierter angenommen werden und wird so bald
zur Hauptsache.
Aber der Erfolg der reinen Reflexlehre bleibt auch bei dieser
Komplizierung unentrinnbar: Das Individuum, die Einheit des
Organismus, war zerschlagen in dem Augenblick, als Flourens
die periphere Exzitabilität, als man den Rückenmarksreflex als
selbständiges Element eingeführt hatte. Der Bruch mit dem (natur-
philosophischen) Lebensbegriff war vollzogen, aber nicht ver-
schmerzt; man suchte die Einheit zu retten, wiederherzustellen.
Es ist die Subjektivität, die helfen soll, und so bekommt die
Empfindung, das Sensorische, eine hohe Wichtigkeit, zunächst eine
selbständige Stellung. Zur Reflexphysiologie tritt die Sinnesphysio-
logie.
Durch die merkwürdigste Problemverschlingung kommt es dann
so, daß allmählich an die Stelle der Gegenüberstellung von cen-
tripetal und centrifugal wieder die von Empfindung und Be-
wegung, von Subjektivem und Objektivem tritt. In diesem Augen-
blick ist der Mechanismus de facto überwunden, auch wenn dies
nicht bemerkt, nicht zugegeben wird. In diesem Augenblick ist
auch das Lebewesen, der Mensch wieder herstellbar, und das
heißt dann, daß auch der Organismus nicht nur als ein Teil der
materiellen Natur, sondern als ein ihr als seiner Umwelt gegen-
übergestelltes Wesen begriffen wird. In dieser Entwicklung kann
es nur eine Übergangsstufe bedeuten, daß man nach der Wieder-
zulassung der Subjektivität die Empfindung in den objektiven
Vorgang einzubeziehen sucht und von dem physiologischen Emp-
findungsvorgang spricht. Doch ist dies ein Zwitterbegriff. Ihm
entspricht auf der materiellen Seite, daß man von der lebendigen
Bewegung als von einer Willkürbewegung spricht Diese beiden
hybriden Begriffe entstehen aus der Materialisierung der Le-
benserscheinung, aber sie führen zu der Wiederherstellung des
V. v. Weizsäcker: Geleitwort zur
Das spielt sich nun so ab: das Bedürfnis, den Erscheinungen
des Lebens ein materielles Geschehen zu. unterlegen, wird zu-
nächst befriedigt durch die Vorstellung von einem Erregungsvor-
gang, der sich in der nervösen Substanz fortbewegt. Der Weg
dieser Ausbreitung auf bestimmten Bahnen liefert das einfachste
und klarste Bild; die Erregung läuft centripetal und von dort
reflektiert wieder centrifugal zum Muskel. Aber die Mannigfaltig-
keit der Tatsachen und ihrer Bedingungen zwingt bald, dieses
allzu einfache Bild zu ergänzen. Der Vorgang im Zentrum selbst
muß doch komplizierter angenommen werden und wird so bald
zur Hauptsache.
Aber der Erfolg der reinen Reflexlehre bleibt auch bei dieser
Komplizierung unentrinnbar: Das Individuum, die Einheit des
Organismus, war zerschlagen in dem Augenblick, als Flourens
die periphere Exzitabilität, als man den Rückenmarksreflex als
selbständiges Element eingeführt hatte. Der Bruch mit dem (natur-
philosophischen) Lebensbegriff war vollzogen, aber nicht ver-
schmerzt; man suchte die Einheit zu retten, wiederherzustellen.
Es ist die Subjektivität, die helfen soll, und so bekommt die
Empfindung, das Sensorische, eine hohe Wichtigkeit, zunächst eine
selbständige Stellung. Zur Reflexphysiologie tritt die Sinnesphysio-
logie.
Durch die merkwürdigste Problemverschlingung kommt es dann
so, daß allmählich an die Stelle der Gegenüberstellung von cen-
tripetal und centrifugal wieder die von Empfindung und Be-
wegung, von Subjektivem und Objektivem tritt. In diesem Augen-
blick ist der Mechanismus de facto überwunden, auch wenn dies
nicht bemerkt, nicht zugegeben wird. In diesem Augenblick ist
auch das Lebewesen, der Mensch wieder herstellbar, und das
heißt dann, daß auch der Organismus nicht nur als ein Teil der
materiellen Natur, sondern als ein ihr als seiner Umwelt gegen-
übergestelltes Wesen begriffen wird. In dieser Entwicklung kann
es nur eine Übergangsstufe bedeuten, daß man nach der Wieder-
zulassung der Subjektivität die Empfindung in den objektiven
Vorgang einzubeziehen sucht und von dem physiologischen Emp-
findungsvorgang spricht. Doch ist dies ein Zwitterbegriff. Ihm
entspricht auf der materiellen Seite, daß man von der lebendigen
Bewegung als von einer Willkürbewegung spricht Diese beiden
hybriden Begriffe entstehen aus der Materialisierung der Le-
benserscheinung, aber sie führen zu der Wiederherstellung des