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Marx, Ernst; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [VerfasserIn] [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse (1938, 10. Abhandlung): Die Entwicklung der Reflexlehre seit Albrecht von Haller bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts: vorgelegt in der Sitzung am 16. November 1938 — Heidelberg, 1939

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https://doi.org/10.11588/diglit.43756#0034
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Ernst Marx:

wir müssen sogar eine Abgrenzung gegen sie finden. — Der
romantischen Entelechie und ihrem Polaritätsprinzip stand als Ziel
ein ideales telos vor Augen, dessen Wesen und Wert dem Men-
schen verborgen war, dessen Erreichung sich nicht an somati-
sche Formen und Möglichkeiten band. Wohl ist „Form“ ein aus
der romantischen Anschauung genommener Begriff; setzen wir
ihn aber mit „Fähigkeit der Formen“ gleich, dann verliert er
seine über dem Einzelnen stehende Bedeutung und bezeichnet
„Gewebe mit immanenten und auch recht deutlich sichtbaren
Fähigkeiten“ für bestimmte Funktionen. Sicher darf man fragen,
ob nicht darin noch ein „telos“ lebe, aber Bedeutung gewann
nur das, was im Körper konkret zu beginnen und zu einem Ende
zu kommen schien. Wir müssen uns gerade in der Nervenphysio-
logie hier an die tatsächliche Entwicklung halten. — Es erscheint
mir sehr wahrscheinlich, daß die fortschreitende Einzelkenntnis, die
Vorgänge im Menschen vom Reiz bis zur darauf folgenden Reak-
tion ablaufen sah, die romantische „Schau“ nicht nur einfach ver-
nachlässigte, sondern sie als unrichtig und ungenau beiseiteliegen
ließ. — Begnügen wir uns mit der Gegenüberstellung von (roman-
tischer) Dynamik und (nicht romantischer) Statik! Daß der Weg
am Ende des 19. Jahrhunderts und in dem unsrigen von der
Statik wieder in die Dynamik geht, ließe sich am Beispiel der
modernen Physik verständlich machen. Für eine der Entwicklung
in der Physik parallel gehende Entwicklung in der Physiologie
möchte ich von Weizsäcker’s Wort von der „Physiologie ohne
Anatomie“ anführen (im Aufsatz „Ataxie und Funktionswandel“,
1931).
Wir haben durch Leibbrand bewiesen bekommen, daß die
sogenannte romantische Medizin keine Caprice derer war, die von
ihr erfüllt waren, auch nicht nur ein Schnörkel am Bau der Wissen-
schaften und Weltanschauungen — wir müssen uns aber nach
dem richten, was im 19. Jahrhundert unsere Wissenschaft, die
Physiologie, bestimmt hat. Und das ist das Bleiben im Stati-
schen. Nachdem die Funktionen des Nervensystems als ganz ver-
schiedene Fähigkeiten in die Augen fielen und nachdem durch
die verfeinerte anatomische Untersuchung die Feinstruktur des
Nervensystems sich zu enthüllen begann und unzweifelhaft wurde
(das ist sehr wichtig für die Physiologie geworden),
konnte man auch in diesem Gebiet den Weg der Einzelforschung
resolut beschreiten; die physiologischen und die anatomischen Er-
 
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