Entwicklung der Reflexlehre 47
damit stünden Empfindlichkeit und Reizbarkeit des Muskels ne-
beneinander. Nervöse Reizung sei nach Haller nicht mehr
unbedingt die motrix causa der Muskelzusammenziehung. Mit
der SAUVAGES’schen Irritabilität als „Sensibilite generale“ und
„Sensibilite propre“ sei eine letzte Rettung der umfassenden Irri-
tabilität versucht worden. Soweit d’Irsay! Vergessen wir nicht,
daß er von der alten Irritabilität vor A. von Haller ausgeht und
ihre naturwissenschaftliche Bedeutung in eine geisteswissenschaft-
liche und geistesgeschichtliche Bedeutung hinüberführt.
Wenn man den Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert einen
Streit um Haller in der Physiologie nennen wollte, hätte man
sicher nicht Unrecht; daß damit aber alles von dem Übergang
gesagt sei, ist nicht meine Meinung. Prochaska wandte sich ent-
schieden gegen Haller, wie ich im ersten Teil meiner Arbeit ge-
zeigt habe, wenn Haller die Muskelkraft von der Nervenkraft
trennte. Prochaska stellt die Nervenkraft obenan, er schreibt
später einmal, daß die Nervenkraft „ein Teil der Reizbarkeit (des
Muskels) ist, oder vielmehr, daß die Reizbarkeit (des Muskels)
die Nervenkraft selbst ist“ —, was ich auf S. 23 eine, nicht ganz
verständliche Definition nannte. Sie ist mir auch in diesem Zu-
sammenhang nicht verständlich, oder auch wieder nur so weit,
daß ich sagen möchte: für Prochaska müssen Nerven- und Mus-
kelkraft, Nerven- und Muskelfunktion einfach zusammenbleiben,
sonst schwindet die organische Einheit des Menschen und da-
mit seine Spezifität in der Welt, und es beginnt eine Nachkon-
struktion am Menschen. — Reil’s Anschauungen von Irritabilität
und Sensibilität gehören wohl auch hierher, sie sind aber ge-
leitet von einem Denken auf ein ganz anderes Ziel hin. —
Wir haben also seit Flourens und Cuvier namentlich ge-
trennnt: „Empfindung und Bewegung erregen“, „emp-
finden“ und „bewegen“. Die beiden ersten Fähigkeiten gehen
in der nervösen Substanz vor sich, die letzte unleugbar in einer
anderen Substanz, deren Konnex mit der nervösen dem einen
fest, dem anderen lose und zufällig erscheint. Dem 18. Jahrhun-
dert, demonstriert an Erasmus Darwin und Prochaska, erschien
er auch zufällig, aber in der beinahe demütigen Anerkennung
der göttlichen Schöpfung. Für Erasmus Darwin und Prochaska
war der Zusammenhalt in der einheitlichen Lebens- oder Nerven-
kraft vorhanden. Ich hoffe, jetzt wirklich verständlich zeigen zu
können, daß die Forscher im 19. Jahrhundert mit der Fähigkeit
damit stünden Empfindlichkeit und Reizbarkeit des Muskels ne-
beneinander. Nervöse Reizung sei nach Haller nicht mehr
unbedingt die motrix causa der Muskelzusammenziehung. Mit
der SAUVAGES’schen Irritabilität als „Sensibilite generale“ und
„Sensibilite propre“ sei eine letzte Rettung der umfassenden Irri-
tabilität versucht worden. Soweit d’Irsay! Vergessen wir nicht,
daß er von der alten Irritabilität vor A. von Haller ausgeht und
ihre naturwissenschaftliche Bedeutung in eine geisteswissenschaft-
liche und geistesgeschichtliche Bedeutung hinüberführt.
Wenn man den Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert einen
Streit um Haller in der Physiologie nennen wollte, hätte man
sicher nicht Unrecht; daß damit aber alles von dem Übergang
gesagt sei, ist nicht meine Meinung. Prochaska wandte sich ent-
schieden gegen Haller, wie ich im ersten Teil meiner Arbeit ge-
zeigt habe, wenn Haller die Muskelkraft von der Nervenkraft
trennte. Prochaska stellt die Nervenkraft obenan, er schreibt
später einmal, daß die Nervenkraft „ein Teil der Reizbarkeit (des
Muskels) ist, oder vielmehr, daß die Reizbarkeit (des Muskels)
die Nervenkraft selbst ist“ —, was ich auf S. 23 eine, nicht ganz
verständliche Definition nannte. Sie ist mir auch in diesem Zu-
sammenhang nicht verständlich, oder auch wieder nur so weit,
daß ich sagen möchte: für Prochaska müssen Nerven- und Mus-
kelkraft, Nerven- und Muskelfunktion einfach zusammenbleiben,
sonst schwindet die organische Einheit des Menschen und da-
mit seine Spezifität in der Welt, und es beginnt eine Nachkon-
struktion am Menschen. — Reil’s Anschauungen von Irritabilität
und Sensibilität gehören wohl auch hierher, sie sind aber ge-
leitet von einem Denken auf ein ganz anderes Ziel hin. —
Wir haben also seit Flourens und Cuvier namentlich ge-
trennnt: „Empfindung und Bewegung erregen“, „emp-
finden“ und „bewegen“. Die beiden ersten Fähigkeiten gehen
in der nervösen Substanz vor sich, die letzte unleugbar in einer
anderen Substanz, deren Konnex mit der nervösen dem einen
fest, dem anderen lose und zufällig erscheint. Dem 18. Jahrhun-
dert, demonstriert an Erasmus Darwin und Prochaska, erschien
er auch zufällig, aber in der beinahe demütigen Anerkennung
der göttlichen Schöpfung. Für Erasmus Darwin und Prochaska
war der Zusammenhalt in der einheitlichen Lebens- oder Nerven-
kraft vorhanden. Ich hoffe, jetzt wirklich verständlich zeigen zu
können, daß die Forscher im 19. Jahrhundert mit der Fähigkeit