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Hugo Koch:
Nun ist allerdings das von Oehler, Reifferscheid und Preu-
schen beibehaltene ,,nenne“ der editio princeps kaum erträglich,
vielmehr scheint nur eine eine negative Antwort erwartende Frage
am Platze zu sein1. Aber gegen das von Esser vorgeschlagene
„numne“ spricht, wie Rauschen in seiner neuesten Ausgabe
(Ronn 1915, 31) bemerkt, der Umstand, daß diese, überhaupt
sehr seltene, Partikel bei Tertullian nicht nachgewiesen ist. Rau-
schen selber schreibt deshalb mit Junius: „Adversus hanc nunc,
ne dissimulare potuissem, audio etiam edictum esse propositum“,
und diese Lesart befriedigt in der Tat sprachlich wie sachlich2.
Die Ehrbarkeit, sagt Tertullian, die bis zu einem gewissen Grade
auch in der Welt sich findet, ist allgemein im Niedergang. Doch
können wir die Ehrbarkeit der Welt mit der Welt sich selbst über
lassen. Aber „nostrorum bonorum status jam mergitur.“ Die
christliche Sittlichkeit, die doch alles vom Himmel her bezieht,
ihr Wesen aus der Taufe, ihre Zucht aus der Predigt, Lohn und
Strafe aus dem Alten und dem Neuen Testament, aus dem Ver-
langen nach dem Himmel und der Furcht vor dem ewigen Feuer,
sie ist jetzt schwer erschüttert, und, wie er hört, geht diese Er-
schütterung sogar auf ein Edikt des pontifex maximus zurück:
da kann er nicht mehr schweigen! Das „nunc“ in 1, 6 (adversus
hanc nunc . . . audio etiam edictum esse propositum) braucht nicht
einen späteren Zeitpunkt zu bezeichnen als das „jam“ in 1, 5
(nostrorum bonorum status jam mergitur, christianae pudicitiae
ratio concutitur, vgl. 1, 15: sed jam haec gloria extinguitur et
quidem per eos, quos tanto constantius oportuerat ejusmodi
maculis nullam subscribere veniam etc.). Aber selbst wenn das
der Fall wäre, könnte der Sinn immer noch der sein, daß Tertullian
die Wahrnehmung machte, wie man in der katholischen Kirche
Karthagos und Afrikas anfing Fleischessünder zu absolvieren, und
daß er dann bei seinen Nachforschungen von der römischen Kund-
gebung hörte. Beim Ansehen der römischen Kirche fiel aber diese
Kundgebung derart zu Gunsten der Wiederaufnahme ins Gewicht,
1 Verteidigt wird das „nonne“ neuestens von F. Rotten (Theol. Revue,
1918, 114), der aber nur den vorausgehenden, nicht auch den folgenden
Gedanken Tertullians berücksichtigt.
2 Das Plusquamperfekt statt des Imperfekts auch in Absichtssätzen ist
bei Tertullian nichts Ungewöhnliches (Hoppe, Syntax und Stil Tertullians,
1903, 69). In der Theol. Revue, 1916, 65 stimmt Esser der Lesart Rauschens
zu für den Fall, daß man seine Lesart numne nicht annehme. Dann hängt
aber seine Erklärung in der Luft.
Hugo Koch:
Nun ist allerdings das von Oehler, Reifferscheid und Preu-
schen beibehaltene ,,nenne“ der editio princeps kaum erträglich,
vielmehr scheint nur eine eine negative Antwort erwartende Frage
am Platze zu sein1. Aber gegen das von Esser vorgeschlagene
„numne“ spricht, wie Rauschen in seiner neuesten Ausgabe
(Ronn 1915, 31) bemerkt, der Umstand, daß diese, überhaupt
sehr seltene, Partikel bei Tertullian nicht nachgewiesen ist. Rau-
schen selber schreibt deshalb mit Junius: „Adversus hanc nunc,
ne dissimulare potuissem, audio etiam edictum esse propositum“,
und diese Lesart befriedigt in der Tat sprachlich wie sachlich2.
Die Ehrbarkeit, sagt Tertullian, die bis zu einem gewissen Grade
auch in der Welt sich findet, ist allgemein im Niedergang. Doch
können wir die Ehrbarkeit der Welt mit der Welt sich selbst über
lassen. Aber „nostrorum bonorum status jam mergitur.“ Die
christliche Sittlichkeit, die doch alles vom Himmel her bezieht,
ihr Wesen aus der Taufe, ihre Zucht aus der Predigt, Lohn und
Strafe aus dem Alten und dem Neuen Testament, aus dem Ver-
langen nach dem Himmel und der Furcht vor dem ewigen Feuer,
sie ist jetzt schwer erschüttert, und, wie er hört, geht diese Er-
schütterung sogar auf ein Edikt des pontifex maximus zurück:
da kann er nicht mehr schweigen! Das „nunc“ in 1, 6 (adversus
hanc nunc . . . audio etiam edictum esse propositum) braucht nicht
einen späteren Zeitpunkt zu bezeichnen als das „jam“ in 1, 5
(nostrorum bonorum status jam mergitur, christianae pudicitiae
ratio concutitur, vgl. 1, 15: sed jam haec gloria extinguitur et
quidem per eos, quos tanto constantius oportuerat ejusmodi
maculis nullam subscribere veniam etc.). Aber selbst wenn das
der Fall wäre, könnte der Sinn immer noch der sein, daß Tertullian
die Wahrnehmung machte, wie man in der katholischen Kirche
Karthagos und Afrikas anfing Fleischessünder zu absolvieren, und
daß er dann bei seinen Nachforschungen von der römischen Kund-
gebung hörte. Beim Ansehen der römischen Kirche fiel aber diese
Kundgebung derart zu Gunsten der Wiederaufnahme ins Gewicht,
1 Verteidigt wird das „nonne“ neuestens von F. Rotten (Theol. Revue,
1918, 114), der aber nur den vorausgehenden, nicht auch den folgenden
Gedanken Tertullians berücksichtigt.
2 Das Plusquamperfekt statt des Imperfekts auch in Absichtssätzen ist
bei Tertullian nichts Ungewöhnliches (Hoppe, Syntax und Stil Tertullians,
1903, 69). In der Theol. Revue, 1916, 65 stimmt Esser der Lesart Rauschens
zu für den Fall, daß man seine Lesart numne nicht annehme. Dann hängt
aber seine Erklärung in der Luft.