62
Gerhard Ritter:
sehen und der bewußten Verstandestätigkeit geradezu aus der Wirk-
samkeit von zwei verschiedenen Seelenvermögen erklären wollte1,
so findet sich davon hei Marsilius nur ein schwacher Nachhall in
der Unterscheidung des komplexen vom inkomplexen, des appre-
hensiven vom assensiven Erkennen2 3.
In der beweisenden Urteilstätigkeit wird die höchste Stufe des
verstandesmäßigen Erkennens erreicht, und mit der Bemerkung,
daß alle Verstandeserkenntnis entweder aktiv erfolgen (noticia
actualis) oder aber als zuständliche Wirkung des Erkenntnisaktes
der Seele verbleiben kann (noticia habitualisf, ist die Beschreibung
des Erkenntnisprozesses abgeschlossen. Es erhebt sich nunmehr
die wichtige Frage, nach welchen Prinzipien denn die Annahme
oder Ablehnung der vom Intellekt im „apprehendierenden“ Urteil
aufgestellten Begriffsverbindungen durch das „assensive“ PIrteil zu
erfolgen hat, d. h. was der Grund der Bejahung oder Verneinung
im Urteil und schließlich was überhaupt der Grund der Wahrheit
des Urteils und des Irrtums sei. Die Frage scheint für diese
Erkenntnistheorie schwierig zu beantworten, da ja der ganze
Erkenntnisprozeß nur seinen ersten Anstoß (in der sinnlichen
Wahrnehmung) von den Dingen der Außenwelt empfängt, in
seinem weiteren Verlauf aber ganz innerhalb des erkennenden
Bewußtseins verläuft, sodaß insbesondere das eigentliche Material
des EIrteilens, die Begriffe und ihre komplexen Verbindungen, sich
nicht wie in der älteren Psychologie als Spiegelungen der Wirk-
lichkeit, sondern als Produkte des erkennenden Verstandes selbst
darstellen. Marsilius legt besonderen Wert auf diesen Fortschritt
der neuen Erkenntnislehre: der unmittelbare Gegenstand des
Wissens ist niemals das Ding selber als etwas Außermentales,
sondern die propositio apprehensiva als etwas Seelisches. Unter
ausdrücklicher Berufung auf den Sentenzenkommentar Okkams,
der hier die communis opinio darstelle, wird diese Ansicht gegen
die „entweder allzu subtile oder einfach unlogische“ Meinung-
Gregors von Rimini verteidigt, der die Verwendbarkeit einer bloß
1 Siebeck 1. c. 329/30.
2 Über das Verhältnis des Willens zum Intellekt vgl. die Willenslehre
(unten in cap. 4, c).
3 lib. sent. I, Bl. ll,a — b: Noticia habitualis. . . est illa quae manet
ex actu etiam ipso actu cessante, sicut dormitione scientis. In diesem kurzen
Satze wird offenbar eine Erklärung des Erinnerns und Vergessens angedeutet,
ähnlich derjenigen Okkams (Siebeck 1. c. 335).
Gerhard Ritter:
sehen und der bewußten Verstandestätigkeit geradezu aus der Wirk-
samkeit von zwei verschiedenen Seelenvermögen erklären wollte1,
so findet sich davon hei Marsilius nur ein schwacher Nachhall in
der Unterscheidung des komplexen vom inkomplexen, des appre-
hensiven vom assensiven Erkennen2 3.
In der beweisenden Urteilstätigkeit wird die höchste Stufe des
verstandesmäßigen Erkennens erreicht, und mit der Bemerkung,
daß alle Verstandeserkenntnis entweder aktiv erfolgen (noticia
actualis) oder aber als zuständliche Wirkung des Erkenntnisaktes
der Seele verbleiben kann (noticia habitualisf, ist die Beschreibung
des Erkenntnisprozesses abgeschlossen. Es erhebt sich nunmehr
die wichtige Frage, nach welchen Prinzipien denn die Annahme
oder Ablehnung der vom Intellekt im „apprehendierenden“ Urteil
aufgestellten Begriffsverbindungen durch das „assensive“ PIrteil zu
erfolgen hat, d. h. was der Grund der Bejahung oder Verneinung
im Urteil und schließlich was überhaupt der Grund der Wahrheit
des Urteils und des Irrtums sei. Die Frage scheint für diese
Erkenntnistheorie schwierig zu beantworten, da ja der ganze
Erkenntnisprozeß nur seinen ersten Anstoß (in der sinnlichen
Wahrnehmung) von den Dingen der Außenwelt empfängt, in
seinem weiteren Verlauf aber ganz innerhalb des erkennenden
Bewußtseins verläuft, sodaß insbesondere das eigentliche Material
des EIrteilens, die Begriffe und ihre komplexen Verbindungen, sich
nicht wie in der älteren Psychologie als Spiegelungen der Wirk-
lichkeit, sondern als Produkte des erkennenden Verstandes selbst
darstellen. Marsilius legt besonderen Wert auf diesen Fortschritt
der neuen Erkenntnislehre: der unmittelbare Gegenstand des
Wissens ist niemals das Ding selber als etwas Außermentales,
sondern die propositio apprehensiva als etwas Seelisches. Unter
ausdrücklicher Berufung auf den Sentenzenkommentar Okkams,
der hier die communis opinio darstelle, wird diese Ansicht gegen
die „entweder allzu subtile oder einfach unlogische“ Meinung-
Gregors von Rimini verteidigt, der die Verwendbarkeit einer bloß
1 Siebeck 1. c. 329/30.
2 Über das Verhältnis des Willens zum Intellekt vgl. die Willenslehre
(unten in cap. 4, c).
3 lib. sent. I, Bl. ll,a — b: Noticia habitualis. . . est illa quae manet
ex actu etiam ipso actu cessante, sicut dormitione scientis. In diesem kurzen
Satze wird offenbar eine Erklärung des Erinnerns und Vergessens angedeutet,
ähnlich derjenigen Okkams (Siebeck 1. c. 335).