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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0098
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98

Gerhard Ritter:

rius1 mit der peripatetischen Physik in Übereinstimmung zu bringen
suchte ? Mir scheint, daß sich diese Figuren durchaus nicht von
dem altenSchema der mittelalterlichenSchulbuchliteratur entfernen.
Das wichtigste Problem, an dem sich die ,,moderne“ Dynamik
bewährte, ist die Theorie des Falls. Tatsächlich gelang es der
Pariser Schule, das Fallgesetz Galileis zwar nicht einwandfrei zu
formulieren, wohl aber — durch exakte Definition und Berechnung"
der beschleunigten Bewegung einerseits und durch die Erkenntnis
der PTrsache der Beschleunigung andererseits — vorzubereiten.
Für die Berechnung der ungleichförmigen Bewegungen be-
standen im 14. Jahrhundert traditionelle Regeln, die zunächst für
solche Bewegungen bestimmt waren, die, wie die Rotation, an den
verschiedenen Punkten eines und desselben Körpers eine verschie-
den große Geschwindigkeit besitzen. Soweit es sich hierbei um
eine gleichmäßig wachsende Verschiedenheit handelte, analog der
Zunahme der lokalen Entfernung vom unbewegten Punkte, sollte
die Geschwindigkeit des Ganzen nach dem Maß der Geschwindig-
keit des in mittlerer Entfernung vom Unbewegten liegenden Punk-
tes berechnet werden; eine andere Tradition, von Thomas Brad-
wardina ausgehend und auch von Albert von Sachsen übernommen,
nahm (irrig) den am schnellsten bewegten Punkt zum Ausgangs-
punkt der Berechnung. Marsilius folgte ihr nicht; in seinem physi-
kalischen Abriß setzt er die Berechnung nach dem mittleren Punkte
als allein richtig voraus, und es ist sehr interessant, wie er diese
Regel ganz gleichmäßig auf Geschwindigkeiten und Farbenquali-
täten anwendet2. Auch in der Abhandlung über „Werden und
Vergehen“ ist häufig von dem mittleren Maß der Intensitäten die
Rede, das für die quantitative Bestimmung einer ungleichförmig
im Körper verteilten Qualität maßgebend sein soll3. Diese Über-
1 Über ihn s. Duhem I, 263. M. Cantor 1. c. II2, 60 u. die dort ange-
führte Literatur. Die gelegentliche Benützung der scientia de ponderibus-
durch M. v. I. wurde bereits oben p. 95 erwähnt.
2 1. c. Bl. 54, d: Latitudo dijformis non debet denominari a puncto inten-
siori, sed magis a puncto medio (im Verhältnis von schwarz und weiß an einem
verschiedenfarbigen Körper). Velocitas motus attenditur, tanquam penes
effectum penes spacium lineale descriptum a puncto suo medio scilicet centrali
vel proportionali centro. Entsprechende Berechnung der Winkelgeschwindig-
keiten Bl. 55. Teilweise zit. bei Duhem III, 404.
3 z. B. 1. c. lib. I, qu. 20, ratio 7. M. v. I. übernimmt also die Regel des.
anonymen Traktates De proportionalitate motuum et magnitudinum. Die ab-
weichende und obendrein in sich inkonsequente Auffassung des größeren
Physikkommentars (Duhem II, 404) ist damit wiederum nicht zu vereinen.
 
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