GLXXXXIV
Am Kirchweihfest.
Brixen 1455.
„Mein Haus soll ein Haus des Gebetes genannt werden“.
1. Da wir das Gebet des Herrn als Ausgangspunkt (dieser
Predigt) gewählt haben, dient es unserem Vorhaben, daß diese
Kirche ein Haus ist, in dem gebetet werden soll. Denn als sie
durch den Bischof gesegnet und geweiht wurde, hat er bei der hei-
ligen Feier darum gefleht, daß jeder, der hier betet, Erhörung seiner
Bitte erlange. Darum wollen wir einiges über das Gebet (im all-
gemeinen) vorausschicken.
Jeder Christ muß das Gebet aus vier Gründen pflegen: wegen seiner
Allgemeinheit, seiner Leichtigkeit, seines Adels und seiner Kraft.
2. Der erste Grund ist seine Allgemeinheit. Eine Sache ist umso
besser, je allgemeiner sie ist. So ist der Tastsinn besser als jeder andere
Sinn, weil er allgemeiner ist. Denn auch jene Tiere besitzen ihn, denen
die übrigen Sinne fehlen; und darum lebt ein Tier auch dann noch,
wenn (außer diesem) alle anderen Sinne zerstört sind. Ist aber der Tast-
sinn zerstört, so ist kein Leben mehr da. So ist auch unter den Ele-
menten das Feuer allgemeiner, weil es seine eigene Natur den oberen
und niederen Wesen mitteilt, und darum ist es auch das edlere Element:
es teilt ebenso den Sternen ihr Licht mit wie den Elementen die Wärme,
und es gibt nichts Lebendiges ohne Wärme. So ist unter den Bestim-
mungen: Sein, Leben und Denken das Sein allgemeiner und darum edler
und besser; darum wird es von allen begehrt: alles verlangt nach dem
Sein. Es ist aber das Erste, das man erfaßt, und bleibt das Letzte in
der gedanklichen Auflösung. Darum ist es edler und allgemeiner. Das
Gebet aber ist allgemeiner, denn das Sehen geschieht durch die Augen,
das Hören durch die Ohren, das Denken durch den Verstand, die Liebe
durch die Hingabe, das Gebet aber durch alles dies. Denn das Wort
Gottes hören heißt beten, das Himmlische liebhaben, bei den Gottes-
13—15. cf. ARISTOTELES De anima B c. 2 (413 b 4—10); T c. 12
ei 13, praescrtim 434b lOseqq.
18. cf. De anima B c. 4 (416 b 29).
19. cf. AV1CENNA Metaphysica VIII c. 6 (Venetiis 1508, lOOra): Id
autem quod desiderat omnis res est esse et perfectio esse, inquantum est esse.
20. cf. AVICENNA l. c. I c. 6 (72rb): Dicemus igitur quod ens et res
et necesse talia sunt quod statim imprimuntur in anima prima impressione etc.
Am Kirchweihfest.
Brixen 1455.
„Mein Haus soll ein Haus des Gebetes genannt werden“.
1. Da wir das Gebet des Herrn als Ausgangspunkt (dieser
Predigt) gewählt haben, dient es unserem Vorhaben, daß diese
Kirche ein Haus ist, in dem gebetet werden soll. Denn als sie
durch den Bischof gesegnet und geweiht wurde, hat er bei der hei-
ligen Feier darum gefleht, daß jeder, der hier betet, Erhörung seiner
Bitte erlange. Darum wollen wir einiges über das Gebet (im all-
gemeinen) vorausschicken.
Jeder Christ muß das Gebet aus vier Gründen pflegen: wegen seiner
Allgemeinheit, seiner Leichtigkeit, seines Adels und seiner Kraft.
2. Der erste Grund ist seine Allgemeinheit. Eine Sache ist umso
besser, je allgemeiner sie ist. So ist der Tastsinn besser als jeder andere
Sinn, weil er allgemeiner ist. Denn auch jene Tiere besitzen ihn, denen
die übrigen Sinne fehlen; und darum lebt ein Tier auch dann noch,
wenn (außer diesem) alle anderen Sinne zerstört sind. Ist aber der Tast-
sinn zerstört, so ist kein Leben mehr da. So ist auch unter den Ele-
menten das Feuer allgemeiner, weil es seine eigene Natur den oberen
und niederen Wesen mitteilt, und darum ist es auch das edlere Element:
es teilt ebenso den Sternen ihr Licht mit wie den Elementen die Wärme,
und es gibt nichts Lebendiges ohne Wärme. So ist unter den Bestim-
mungen: Sein, Leben und Denken das Sein allgemeiner und darum edler
und besser; darum wird es von allen begehrt: alles verlangt nach dem
Sein. Es ist aber das Erste, das man erfaßt, und bleibt das Letzte in
der gedanklichen Auflösung. Darum ist es edler und allgemeiner. Das
Gebet aber ist allgemeiner, denn das Sehen geschieht durch die Augen,
das Hören durch die Ohren, das Denken durch den Verstand, die Liebe
durch die Hingabe, das Gebet aber durch alles dies. Denn das Wort
Gottes hören heißt beten, das Himmlische liebhaben, bei den Gottes-
13—15. cf. ARISTOTELES De anima B c. 2 (413 b 4—10); T c. 12
ei 13, praescrtim 434b lOseqq.
18. cf. De anima B c. 4 (416 b 29).
19. cf. AV1CENNA Metaphysica VIII c. 6 (Venetiis 1508, lOOra): Id
autem quod desiderat omnis res est esse et perfectio esse, inquantum est esse.
20. cf. AVICENNA l. c. I c. 6 (72rb): Dicemus igitur quod ens et res
et necesse talia sunt quod statim imprimuntur in anima prima impressione etc.