210 J. Koch und H. Teske Cusanus-Texte: I. Predigten, 6.
unserer Hoffnung und unseres Verlangens ? Diese Fragen sind das
Mittel, mit dem er immer tiefer in den unergründlichen Gehalt des
Herrengebetes einzudringen sucht, und der Leser, den er sich
wünscht, soll ihm darin folgen, und zwar nicht nur theoretisch mit
seinem Verständnis, sondern praktisch: er soll nach den Artikeln
des Vaterunsers leben. „Diese Wege,“ so heißt es beim Abschluß
der ersten drei Artikel, „sind dir notwendig und sie genügen auch,
wenn du dieser Lehre folgst“ (S. 46, 14).
Für diese formale Disposition scheint Cusanus von zwei Seiten
her Anregungen erhalten zu haben, zunächst wohl von Thomas
von Aquin. In seiner Auslegung1 geht er auch von dem Sinn des
Gebetes aus. Das Gebet ist sozusagen der Dolmetsch unseres Ver-
langens bei Gott. Wir dürfen also nur um das mit Recht bitten,
wonach wir mit Recht verlangen dürfen. Das Vaterunser zeigt uns
nun nicht nur die Gegenstände, nach denen wir verlangen dürfen,
sondern auch die Ordnung, in der sie zu verlangen sind: zuerst das
Ziel und dann die Mittel. Mag nun auch die Einzelauslegung wesent-
lich von der des Thomas abweichen, so ist doch der Ausgangspunkt
offensichtlich derselbe. Eine Einzelheit bei Cusanus scheint auch
darauf hinzudeuten, daß er den Text des Aquinaten gekannt hat;
wenn er als zweites Stück des Mittels „eyn lichtigung des hyndernis“
angibt, so ist das offensichtlich die wörtliche Übersetzung von
„remotio prohibentis“2. Freilich ist die Anwendung des Begriffes
wiederum verschieden.
Eine wichtigere Rolle dürfte wohl der Vorrede des Richard
von St. Victor zu seinem bekannten Werk „De trinitate“3 zu-
1 S. theol. II II q. 83 a. 9: „Quia enim oratio est quodammodo desi-
derii nostri interpres apud Deum, illa recte solum orando petimus quae recte
desiderare valemus. In oratione autem dominica non solum petuntur omnia
quae recte desiderare possumus, sed etiam eo ordine quo desideranda sunt“ etc.
2 a. a. O.: „Per accidens autem ordinamur in beatitudinem per remotio-
nem prohibentis. Tria autem sunt quae nos a beatitudine prohibent; primo
quidem peccatum .... secundo tentatio .... tertio poenalitas praesens.“
3 PL 196, 887ff. Man beachte besonders folgende Sätze: „Sine fide
namque impossibile est placere Deo. Nam ubi non fides, non potest esse spes.
. . . Ubi autem non est spes, caritas esse non potest. Quis enim amet de quo
nil boni speret ? Per fidem igitur promovemur ad spem, et per spem profici-
mus ad caritatem. . . . Ex dilectione itaque manifestatio, et ex manifestatione
contemplatio, et ex contemplatione cognitio. . . . Parum ergo debet nobis
esse quae recta et vera sunt de Deo credere; sed satagamus, ut dictum est,
quae credimus intelligere. Nitamur semper, in quantum fas est vel fieri potest,
comprehendere ratione quod tenemus ex fide.“
unserer Hoffnung und unseres Verlangens ? Diese Fragen sind das
Mittel, mit dem er immer tiefer in den unergründlichen Gehalt des
Herrengebetes einzudringen sucht, und der Leser, den er sich
wünscht, soll ihm darin folgen, und zwar nicht nur theoretisch mit
seinem Verständnis, sondern praktisch: er soll nach den Artikeln
des Vaterunsers leben. „Diese Wege,“ so heißt es beim Abschluß
der ersten drei Artikel, „sind dir notwendig und sie genügen auch,
wenn du dieser Lehre folgst“ (S. 46, 14).
Für diese formale Disposition scheint Cusanus von zwei Seiten
her Anregungen erhalten zu haben, zunächst wohl von Thomas
von Aquin. In seiner Auslegung1 geht er auch von dem Sinn des
Gebetes aus. Das Gebet ist sozusagen der Dolmetsch unseres Ver-
langens bei Gott. Wir dürfen also nur um das mit Recht bitten,
wonach wir mit Recht verlangen dürfen. Das Vaterunser zeigt uns
nun nicht nur die Gegenstände, nach denen wir verlangen dürfen,
sondern auch die Ordnung, in der sie zu verlangen sind: zuerst das
Ziel und dann die Mittel. Mag nun auch die Einzelauslegung wesent-
lich von der des Thomas abweichen, so ist doch der Ausgangspunkt
offensichtlich derselbe. Eine Einzelheit bei Cusanus scheint auch
darauf hinzudeuten, daß er den Text des Aquinaten gekannt hat;
wenn er als zweites Stück des Mittels „eyn lichtigung des hyndernis“
angibt, so ist das offensichtlich die wörtliche Übersetzung von
„remotio prohibentis“2. Freilich ist die Anwendung des Begriffes
wiederum verschieden.
Eine wichtigere Rolle dürfte wohl der Vorrede des Richard
von St. Victor zu seinem bekannten Werk „De trinitate“3 zu-
1 S. theol. II II q. 83 a. 9: „Quia enim oratio est quodammodo desi-
derii nostri interpres apud Deum, illa recte solum orando petimus quae recte
desiderare valemus. In oratione autem dominica non solum petuntur omnia
quae recte desiderare possumus, sed etiam eo ordine quo desideranda sunt“ etc.
2 a. a. O.: „Per accidens autem ordinamur in beatitudinem per remotio-
nem prohibentis. Tria autem sunt quae nos a beatitudine prohibent; primo
quidem peccatum .... secundo tentatio .... tertio poenalitas praesens.“
3 PL 196, 887ff. Man beachte besonders folgende Sätze: „Sine fide
namque impossibile est placere Deo. Nam ubi non fides, non potest esse spes.
. . . Ubi autem non est spes, caritas esse non potest. Quis enim amet de quo
nil boni speret ? Per fidem igitur promovemur ad spem, et per spem profici-
mus ad caritatem. . . . Ex dilectione itaque manifestatio, et ex manifestatione
contemplatio, et ex contemplatione cognitio. . . . Parum ergo debet nobis
esse quae recta et vera sunt de Deo credere; sed satagamus, ut dictum est,
quae credimus intelligere. Nitamur semper, in quantum fas est vel fieri potest,
comprehendere ratione quod tenemus ex fide.“