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J. Koch und H. Teske Cusanus-Texte: I. Predigten, 6.

bis 35) und endlich der dritte Abschnitt mit den letzten vier Ar-
tikeln (n. 36—46). Wir müssen uns nunmehr klarmachen, welche
Gliederung diese Abschnitte haben.
Für das Verständnis der Struktur des ersten und letzten Abschnittes
ist die Theorie des Quaternars von Bedeutung, die in „De coniecturis“ ent-
wickelt wird1. Hier bezeichnet Gusanus die Drei als die Zahl der complicatio,
die Vier als die der explicatio. Drei ist die zur Ganzheit gewordene Einheit
(unitas, aequalitas, nexus). Indem sich nun aus ihr ein viertes Glied entfaltet,
entsteht der Quaternar. Die vier Glieder stehen untereinander in Proportio-
nalität: a: b wie c: d. Da Gusanus nun in „De coniecturis“2 sagt, die rich-
tige Gliederung nach Zahlen sei nicht nur für die Logik, sondern auch für die
Rhetorik wichtig, da das Anhören einer harmonischen Gliederung erfreue, so
darf man wohl erwarten, daß die Vaterunser-Auslegung auch solche zahlen-
mäßige Gliederungen enthält. In der Tat ist es nicht schwer, sie aufzuweisen.
Daß die ersten drei Artikel einen Ternär bilden, leuchtet
ohne weiteres ein: die Dreieinigkeit Gottes wird hier mit Hilfe der
bekannten augustinischen Trias unitas, aequalitas und nexus dar-
gestellt. Das vierte Glied ist die Bitte „Dein Wille geschehe“ usw.
Sie enthält die Lehre von der Erschaffung der Welt. Es gehört
aber zu den Grundgedanken der cusanischen Lehre, daß zwischen
Gott und der Welt das Verhältnis von complicatio und explicatio
besteht3. Läßt sich aber auch die Proportionalität zwischen den
vier Gliedern aufweisen ? Zunächst hat es den Anschein, daß das
nicht möglich ist, weil Gusanus die Schöpfung als Werk des drei-
einigen Gottes bezeichnet. Die Worte der Bitte weisen auf die drei
Personen hin: „dein“ auf den Vater, „Wille“ auf den Hl. Geist,
„geschehe“ auf den Sohn. Nun muß man aber beachten, wie stark
in dem Abschnitt (n. 19) die Schöpfung als Sache des Willens
Gottes betrachtet wird. Alle Dinge fließen von Gott seinem Wil-
len entsprechend aus und haben keinen andern Grund ihres Seins
als seinen Willen. Alle Dinge sind so, wie sie sind, weil Gott es
so will. Cusanus setzt aber Gottes Willen in engste Beziehung
1 Besonders I c. 4 ff.
2 II c. 2 (p 52r): „Rhetor autem conceptum imprimere volens ratione
utitur, ut audientium mentes immutet. Seit enim convenire receptioni, ut
verbum ornetur convenienti proportione. Atque ut ratione animetur, quater-
narium causarum facit atque in universorum circulum contrahit“. Vgl. De
Beryllo (ed. L. Baur) c. 34 p. 46, 18—21: „Similitudo enim rationis aelernae
seu divini conditoris intellectus resplendet in proportione harmonica sive con-
cordanti, et hoc experimur, quoniam proportio illa delectabilis et grata est
omni sensui, dum sentitur“.
3 Vgl. De Docta Ignorantia II c. 6; E. Hoffmann, Das Universum des
Nikolaus von Cues (Gusanus-Studien I), HSB. 1929/30 3. Abh., S. 15f.
 
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