Drittes Kapitel: Erläuterungen. §5.
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wird dann die Beseitigung dieser Gebrechen im einzelnen aufge-
wiesen. Den Schluß zieht der letzte Artikel: erlöse uns von dem
Übel! „Damit bekennen wir uns zu einem andern Reich, in wel-
chem kein Übel, sondern allein das oberste, wahre und lautere
Gut ist“ (n. 43, S. 84, 10ff.).
Die Durchführung dieses Grundgedankens ist nicht weniger
bewundernswert als die harmonische Struktur des Ganzen und die
lebendige Verknüpfung der einzelnen Glieder. Cusanus beschreibt
mit seiner Auslegung nicht eine Kreisbewegung, sondern eine Spi-
rale1: von der unbezweifelbaren Erkenntnis des Ursprungs aller
Dinge aus dem einen Gott Vater führt er den Leser in allmählichem
Aufstieg hin zum Verlangen nach dem höchsten Gut, von einem
Gottesbegriff, der zunächst ganz abstrakt erscheint, zur lebendigen
Gemeinschaft mit dem Erlöser von allem Übel. Die Erkenntnis-
bewegung der Auslegung entspricht durchaus der von „De Docta
Ignorantia“: auch hier der Ausgang von dem abstrakten Begriff
der Einheit (unitas), die die absolute Größe ist2, und der Auf-
stieg zur Gemeinschaft (unio) der triumphierenden Kirche in
Jesus durch den Hl. Geist mit Gott3. Und die Erkenntnis seiner
Güte wird ausdrücklich als das Ergebnis der voraufgehenden Be-
trachtung hingestellt4.
§ 5. Die Vaterunser-Auslegung als theologisches Werk.
I. Glaube und Einsicht.
Auch wenn Cusanus sich für seine Deutung des Vaterunsers
nicht ausdrücklich auf das Urteil der Theologen als der zustän-
digen Richter berufen hätte (28, 18ff.), würde wohl niemand den
1 Dionysius Areopagita wendet die beiden Symbole der Kreis- und
der Spiralbewegung sowohl auf Gott als auch auf die reinen Geister und die
menschliche Seele an; vgl. De div. nom. c. IV, § 8 und 9; c. IX, § 9. H. Koch,
a.a. 0., S. 83f. Er verbindet damit aber einen etwas andern Sinn als wir
hier tun.
2 De Docta Ignorantia I c. 2, S. 7, 4ff.: Maximum autem hoc dico,
quo nihil maius esse potest. Habundantia vero uni convenit. Coincidit ita-
que maximitati unitas, quae est et entitas.
3 a.a.O. III c. 12, S. 162, 21ff.: Unio autem ecclesiastica coincidit cum
hypostatica, ut praefertur; propter quod in spiritu Iesu est unio triumphan-
tium, qui in Spiritu sancto est.
4 a.a.O., S. 159, 28f.: Si ista, uti sunt, profunda mente meditatus fueris,
admiranda dulcedine Spiritus perfunderis, quoniam interno gustu inexpressi-
bilem Dei bonitatem quasi in fumo aromaticissimo odorabis, quam tibi tran-
siens ministrabit; de quo satiaberis, cum apparuerit gloria eius.
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wird dann die Beseitigung dieser Gebrechen im einzelnen aufge-
wiesen. Den Schluß zieht der letzte Artikel: erlöse uns von dem
Übel! „Damit bekennen wir uns zu einem andern Reich, in wel-
chem kein Übel, sondern allein das oberste, wahre und lautere
Gut ist“ (n. 43, S. 84, 10ff.).
Die Durchführung dieses Grundgedankens ist nicht weniger
bewundernswert als die harmonische Struktur des Ganzen und die
lebendige Verknüpfung der einzelnen Glieder. Cusanus beschreibt
mit seiner Auslegung nicht eine Kreisbewegung, sondern eine Spi-
rale1: von der unbezweifelbaren Erkenntnis des Ursprungs aller
Dinge aus dem einen Gott Vater führt er den Leser in allmählichem
Aufstieg hin zum Verlangen nach dem höchsten Gut, von einem
Gottesbegriff, der zunächst ganz abstrakt erscheint, zur lebendigen
Gemeinschaft mit dem Erlöser von allem Übel. Die Erkenntnis-
bewegung der Auslegung entspricht durchaus der von „De Docta
Ignorantia“: auch hier der Ausgang von dem abstrakten Begriff
der Einheit (unitas), die die absolute Größe ist2, und der Auf-
stieg zur Gemeinschaft (unio) der triumphierenden Kirche in
Jesus durch den Hl. Geist mit Gott3. Und die Erkenntnis seiner
Güte wird ausdrücklich als das Ergebnis der voraufgehenden Be-
trachtung hingestellt4.
§ 5. Die Vaterunser-Auslegung als theologisches Werk.
I. Glaube und Einsicht.
Auch wenn Cusanus sich für seine Deutung des Vaterunsers
nicht ausdrücklich auf das Urteil der Theologen als der zustän-
digen Richter berufen hätte (28, 18ff.), würde wohl niemand den
1 Dionysius Areopagita wendet die beiden Symbole der Kreis- und
der Spiralbewegung sowohl auf Gott als auch auf die reinen Geister und die
menschliche Seele an; vgl. De div. nom. c. IV, § 8 und 9; c. IX, § 9. H. Koch,
a.a. 0., S. 83f. Er verbindet damit aber einen etwas andern Sinn als wir
hier tun.
2 De Docta Ignorantia I c. 2, S. 7, 4ff.: Maximum autem hoc dico,
quo nihil maius esse potest. Habundantia vero uni convenit. Coincidit ita-
que maximitati unitas, quae est et entitas.
3 a.a.O. III c. 12, S. 162, 21ff.: Unio autem ecclesiastica coincidit cum
hypostatica, ut praefertur; propter quod in spiritu Iesu est unio triumphan-
tium, qui in Spiritu sancto est.
4 a.a.O., S. 159, 28f.: Si ista, uti sunt, profunda mente meditatus fueris,
admiranda dulcedine Spiritus perfunderis, quoniam interno gustu inexpressi-
bilem Dei bonitatem quasi in fumo aromaticissimo odorabis, quam tibi tran-
siens ministrabit; de quo satiaberis, cum apparuerit gloria eius.