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J. Koch und H. Teske Cusanus-Texte: I. Predigten, 6.
3. Die letzte Gruppe hierhergehöriger Worte bilden fehen und
jehau wen. Beide werden zunächst von der Funktion des Ge-
sichtssinnes gebraucht: fchauwen 34, 6; fehen (an/eben) 44, 14. 16;
66, 10. 13 usw. Nun werden beide Worte auch im übertragenen
Sinn gebraucht: 62, 14. 19; 72, 15 und 80, 16 bedeutet fehen so-
viel wie erkennen, einsehen, wie sich besonders aus 80, 16 ergibt,
wo fehen neben mercken gebraucht wird. 66, 10ff. ist besonders
instruktiv, weil hier fehen zunächst (Z. 10) im eigentlichen, dann
im übertragenen Sinne = mit den äugen des glaubens (Z. 11) oder
mit dem glauben des verftentenis (Z. 16) fehen gebraucht wird. 68, 2f.
wird das diesseitige fchauwen im glauben dem jenseitigen fchauwen
in der warheit gegenübergestellt. Ein eigentliches Schauen der Ge-
heimnisse Gottes gibt es also erst in der Vollendung des Himmels.
Wer von ,,De Docta Ignorantia“ herkommt, wird in dieser
Zusammenstellung die spezifisch cusanische Erkenntnis der 'be-
lehrten Unwissenheit’, die für ihn doch die höchste Form der Er-
kenntnis ist, vermissen. Sie fehlt aber nicht in der Auslegung, son-
dern wird bei der Erklärung der ersten Bitte ausdrücklich behan-
delt: die Formeln, die er gebraucht, sind (got) vber vnfer verjtentenifs
bekennen und den namen des erkentenis gottes vber alle erkentenifje
heiligen (38, 5. 20f.). Im Hauptwerk finden sich fast wörtliche
Parallelen, vor allem I c. 16, S. 31, llf., wo Cusanus auch auf
seine Quelle hinweist: ,,Hinc concludit (Dionysius) in Epistola ad
Gaium ipsum (scilicet Deum) super omnem mentem atque intelli-
gentiam nosci“1. Diese Erkenntnis beruht auf einer besondern
gnadenhaften Erleuchtung (38, 6. 7), die den Gläubigen sehend
macht (38, 8. 9. 10. 12; 40, 17). Den ausführlichen Kommentar
hierzu bietet DI III c. 11, S. 152, 27ff. Der Terminus, den er hier
gebraucht, ist contemplari incomprehensibiliter. Hier ist die einzige
Stelle, wo man von einem mystischen Zug der Auslegung sprechen
könnte2. Handelt es sich nach der Meinung des Cusanus wirk-
lich um mystische Gnaden, so sind sie sicher nicht das Vorrecht
einzelner, sondern grundsätzlich allen Gläubigen zugänglich.
1 Vgl. De Doct. Ign. I c. 17, S. 35, 1—3.
2 Vgl. den Meister Eckhart zugeschriebenen Traktat über „Diu Zeichen
eines wärhaften grundes“ (Meister Eckhart, hrsg. von Fr. Pfeiffer, 475,
35 l'f.): „Ein meister sprichet: ez koment vil liute ze klarem verstantnüsse und
ze vernünftigem underscheide bilde unde forme, aber der ist wenic, die da
koment über verstantlichez schouwen und über vernünftige begrifunge, bilde
unde forme“ usw.
J. Koch und H. Teske Cusanus-Texte: I. Predigten, 6.
3. Die letzte Gruppe hierhergehöriger Worte bilden fehen und
jehau wen. Beide werden zunächst von der Funktion des Ge-
sichtssinnes gebraucht: fchauwen 34, 6; fehen (an/eben) 44, 14. 16;
66, 10. 13 usw. Nun werden beide Worte auch im übertragenen
Sinn gebraucht: 62, 14. 19; 72, 15 und 80, 16 bedeutet fehen so-
viel wie erkennen, einsehen, wie sich besonders aus 80, 16 ergibt,
wo fehen neben mercken gebraucht wird. 66, 10ff. ist besonders
instruktiv, weil hier fehen zunächst (Z. 10) im eigentlichen, dann
im übertragenen Sinne = mit den äugen des glaubens (Z. 11) oder
mit dem glauben des verftentenis (Z. 16) fehen gebraucht wird. 68, 2f.
wird das diesseitige fchauwen im glauben dem jenseitigen fchauwen
in der warheit gegenübergestellt. Ein eigentliches Schauen der Ge-
heimnisse Gottes gibt es also erst in der Vollendung des Himmels.
Wer von ,,De Docta Ignorantia“ herkommt, wird in dieser
Zusammenstellung die spezifisch cusanische Erkenntnis der 'be-
lehrten Unwissenheit’, die für ihn doch die höchste Form der Er-
kenntnis ist, vermissen. Sie fehlt aber nicht in der Auslegung, son-
dern wird bei der Erklärung der ersten Bitte ausdrücklich behan-
delt: die Formeln, die er gebraucht, sind (got) vber vnfer verjtentenifs
bekennen und den namen des erkentenis gottes vber alle erkentenifje
heiligen (38, 5. 20f.). Im Hauptwerk finden sich fast wörtliche
Parallelen, vor allem I c. 16, S. 31, llf., wo Cusanus auch auf
seine Quelle hinweist: ,,Hinc concludit (Dionysius) in Epistola ad
Gaium ipsum (scilicet Deum) super omnem mentem atque intelli-
gentiam nosci“1. Diese Erkenntnis beruht auf einer besondern
gnadenhaften Erleuchtung (38, 6. 7), die den Gläubigen sehend
macht (38, 8. 9. 10. 12; 40, 17). Den ausführlichen Kommentar
hierzu bietet DI III c. 11, S. 152, 27ff. Der Terminus, den er hier
gebraucht, ist contemplari incomprehensibiliter. Hier ist die einzige
Stelle, wo man von einem mystischen Zug der Auslegung sprechen
könnte2. Handelt es sich nach der Meinung des Cusanus wirk-
lich um mystische Gnaden, so sind sie sicher nicht das Vorrecht
einzelner, sondern grundsätzlich allen Gläubigen zugänglich.
1 Vgl. De Doct. Ign. I c. 17, S. 35, 1—3.
2 Vgl. den Meister Eckhart zugeschriebenen Traktat über „Diu Zeichen
eines wärhaften grundes“ (Meister Eckhart, hrsg. von Fr. Pfeiffer, 475,
35 l'f.): „Ein meister sprichet: ez koment vil liute ze klarem verstantnüsse und
ze vernünftigem underscheide bilde unde forme, aber der ist wenic, die da
koment über verstantlichez schouwen und über vernünftige begrifunge, bilde
unde forme“ usw.