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240 J. Koch und H. Teske Cusanus-Texte: I. Predigten, 6.
Die Methode, welche er zur Gewinnung des Sinnes anwendet, ist
grundsätzlich dieselbe, die auch der heutige Exeget befolgt: zuerst
erklärt er die einzelnen Begriffe, die ein Artikel enthält, dann
diesen selbst. In Pr. 194 wird dieses Verfahren für sechs Artikel
ganz schulmäßig durchgeführt. Die Erklärung mancher Begriffe
ist sicher unhaltbar; so die Deutung des Namens des Vaters als
Sohn und die des Reiches als Hl. Geist. Wer wollte aber deswegen
mit Cusanus rechten? Sein Fehler liegt im Ansatzpunkt, näm-
lich in der Meinung, das Vaterunser müsse die gesamte christliche
Lehre umfassen. Dieser Gedanke läßt sich natürlich nicht ohne
Gewaltsamkeiten durchführen. Demgegenüber ist die Deutung der
einzelnen Sätze viel weniger kühn. Sie erfolgt mit Hilfe der for-
malen Disposition Glaube, Hoffnung und Verlangen. Der Aus-
gangspunkt ist dabei jeweils die Analyse des Bittaktes, bei der
Cusanus alle Momente — den Bittenden, seine Bitte, den Gegen-
stand der Bitte und Gott — berücksichtigt. Man vergleiche etwa
die Erklärung der Bitte: ,,Und vergib uns unsere Schuld“, da hier
die Analyse besonders sorgfältig durchgeführt ist.
Das wichtigste Mittel zum Aufbau eines einheitlichen theo-
logischen Systems ist die Einheit der tragenden Begriffe. Es
handelt sich hier also noch nicht um das allgemeine Problem der
Terminologie der Auslegung, sondern um die Herausstellung der
spekulativen Grundbegriffe. Man denke vergleichsweise etwa
an die Funktion, welche die Begriffe complicatio ■— explicatio, ab-
solutum — contractum, coincidentia, praecisio und noch ein paar
andere für das Lehrgebäude von ,,De Docta Ignorantia“ haben.
Eine ähnliche Rolle spielen in der so viel kleineren Auslegung die
Begriffe Natur und Leben. Während 'Leben’ seit den paulini-
schen Briefen und dem Johannesevangelium zu den Grundbegriffen
der christlichen Theologie gehört, erlangte 'Natur’ erst im Lauf
der Jahrhunderte dauernden dogmatischen Auseinandersetzungen
über die Trinitätslehre und Christologie eine besondere Bedeutung.
Die grundlegenden Formulierungen beider Lehren beruhen auf der
Unterscheidung von Natur (Wesen) und Person, mag es sich nun
so wenn er in den beiden lateinischen Predigten die Brotbitte nach Matthäus
immer in der Form zitiert: panem superstantialem usw. (16, 27; 18, 2. 18;
134, 17), weil er diese Lesart — offenbar auf Grund bestimmter Hss. — für
die richtige hält; oder wenn er in den Notae seine Deutung des Namens
Gottes mit einer handschriftlichen Lesart zu Joh. 12, 23 und die des Reiches
mit Paulustexten begründet.
 
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