Zur ethnischen Deutung frühgeschichtlicher Kulturprovinzen 107
gesichts der schier unlösbaren Schwierigkeiten“ vor die Frage ge-
stellt sieht, ,,ob die Übertragung der festen Stammesbegriffe spä-
terer Jahrhunderte auf die Kulturverhältnisse der Spät-La-Tene-
Zeit überhaupt berechtigt ist“1. Aber wenn er es im Anschluß
daran für wenig wahrscheinlich hält, „daß in dieser sturmbewegten
ostgermanischen Wanderungszeit schon festgefügte Stämme über
See fuhren und auf dem eroberten Festland damals schon ihre
Reiche errichteten“, wenn er weiter glaubt, „den Stammeswirrwarr
und das Hin und Her der späteren Völkerwanderung“ hier mit
heranziehen zu müssen, dann scheint bei ihm doch der Sinn für
die geschichtliche Wirklichkeit und für das im Rahmen des Ge-
schehens Mögliche zugunsten einer Überschätzung der Fundtypo-
logie zurückzutreten2. Man sollte hier nicht die Begriffe Volk und
Stamm in Zweifel ziehen, sondern überlegen, in welchen besonderen
Fällen die Möglichkeit ihrer Abgrenzung innerhalb des Fundstoffes
erwartet werden kann, und in welchen nicht.
Auch das Studium des großen völkerwanderungszeitlich-mero-
wingischen Kulturkreises führt nicht zu dem von einer allzu starren
Typologie erhofften Ziel. Eine rein formenkundlich begründete
Karte der Germanenstämme dieser Jahrhunderte liegt ganz außer-
halb der Bereiche des Möglichen. So oft man sich schon darum
bemüht hat, zwischen fränkischem und alemannischem Nachlaß
allgemeingültige Unterschiede zu ermitteln und auf sie feste Grenz-
linien zu gründen, so wenig vermochten alle diese Versuche auf die
Dauer zu befriedigen. Gewiß ist es innerhalb engerer räumlicher
Grenzen und einer für den betreffenden Raum historisch erwie-
senen zeitlichen Abfolge mehrerer Germanenstämme da und dort
einmal gelungen, einem Friedhof oder gar einer Gruppe von solchen
einen bestimmten Namen zu geben; stets aber wird in diesen Fällen
eine nur kleine Auswahl aus dem Typenschatz der Grabbeigaben
in die Waagschale geworfen, und sowohl die historische Ortskunde
wie auch die mit den Schriftquellen arbeitende Stammesgeographie
haben dabei ein nicht minder wichtiges Wort zu sagen. Man spricht
1 a.a.O. 120.
2 Im Anschluß an diese Arbeit überlegt O. Kunkel (Baltische Studien,
N. F. 40. 1938, 327), ob „es vielleicht gut wäre, bei der Volkskunde in die
Lehre zu gehen, um einen wahrhaften Begriff von lebendigem stamm-
lichem Werden zu gewinnen“. Dieser Vorschlag liegt in der Richtung des hier
angedeuteten Ziels, doch erscheint mir persönlich eine Belehrung der Prä-
historie gerade durch die heutige Volkskunde kaum einen Erfolg zu ver-
sprechen.
gesichts der schier unlösbaren Schwierigkeiten“ vor die Frage ge-
stellt sieht, ,,ob die Übertragung der festen Stammesbegriffe spä-
terer Jahrhunderte auf die Kulturverhältnisse der Spät-La-Tene-
Zeit überhaupt berechtigt ist“1. Aber wenn er es im Anschluß
daran für wenig wahrscheinlich hält, „daß in dieser sturmbewegten
ostgermanischen Wanderungszeit schon festgefügte Stämme über
See fuhren und auf dem eroberten Festland damals schon ihre
Reiche errichteten“, wenn er weiter glaubt, „den Stammeswirrwarr
und das Hin und Her der späteren Völkerwanderung“ hier mit
heranziehen zu müssen, dann scheint bei ihm doch der Sinn für
die geschichtliche Wirklichkeit und für das im Rahmen des Ge-
schehens Mögliche zugunsten einer Überschätzung der Fundtypo-
logie zurückzutreten2. Man sollte hier nicht die Begriffe Volk und
Stamm in Zweifel ziehen, sondern überlegen, in welchen besonderen
Fällen die Möglichkeit ihrer Abgrenzung innerhalb des Fundstoffes
erwartet werden kann, und in welchen nicht.
Auch das Studium des großen völkerwanderungszeitlich-mero-
wingischen Kulturkreises führt nicht zu dem von einer allzu starren
Typologie erhofften Ziel. Eine rein formenkundlich begründete
Karte der Germanenstämme dieser Jahrhunderte liegt ganz außer-
halb der Bereiche des Möglichen. So oft man sich schon darum
bemüht hat, zwischen fränkischem und alemannischem Nachlaß
allgemeingültige Unterschiede zu ermitteln und auf sie feste Grenz-
linien zu gründen, so wenig vermochten alle diese Versuche auf die
Dauer zu befriedigen. Gewiß ist es innerhalb engerer räumlicher
Grenzen und einer für den betreffenden Raum historisch erwie-
senen zeitlichen Abfolge mehrerer Germanenstämme da und dort
einmal gelungen, einem Friedhof oder gar einer Gruppe von solchen
einen bestimmten Namen zu geben; stets aber wird in diesen Fällen
eine nur kleine Auswahl aus dem Typenschatz der Grabbeigaben
in die Waagschale geworfen, und sowohl die historische Ortskunde
wie auch die mit den Schriftquellen arbeitende Stammesgeographie
haben dabei ein nicht minder wichtiges Wort zu sagen. Man spricht
1 a.a.O. 120.
2 Im Anschluß an diese Arbeit überlegt O. Kunkel (Baltische Studien,
N. F. 40. 1938, 327), ob „es vielleicht gut wäre, bei der Volkskunde in die
Lehre zu gehen, um einen wahrhaften Begriff von lebendigem stamm-
lichem Werden zu gewinnen“. Dieser Vorschlag liegt in der Richtung des hier
angedeuteten Ziels, doch erscheint mir persönlich eine Belehrung der Prä-
historie gerade durch die heutige Volkskunde kaum einen Erfolg zu ver-
sprechen.