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E. Wahle:
genannten unterscheidet, als in ihm dem raumgewinnenden Volks-
tum die diesem letzteren eigene Gesittung nicht zu folgen vermag.
Nach den Schriftquellen besitzen die Bodenständigen genügend
Kraft, die zugewanderten Germanen in sich aufzunehmen, und das
bedeutet eine Bestätigung des typologischen Studiums, welches
seinerseits ja ebenfalls den Vorgang der Keltisierung deutlich zu
erkennen gibt. Dieser vorübergehende germanische Gebietsgewinn
würde uns verschlossen bleiben, wenn wir ihn nicht aus den Schrift-
quellen nachweisen könnten; ist nicht gerade damit die Richtig-
keit der hier entwickelten Anschauung bewiesen, in den Kultur-
provinzen zeige sich weniger das Gebiet der einzelnen Stämme und
Völker als dasjenige der stärkeren Lebenskraft?
Dementsprechend gilt es nun aber auch, diese Erkenntnis auf
die schriftlosen Bereiche der Frühgeschichte anzuwenden. Wie not-
wendig dies ist, erhellt z. B. daraus, daß die für gewöhnlich als
recht gesichert angesehene Entwicklung des germanischen Siede-
lungsgebietes bei näherer Betrachtung eine Fülle offener Fragen
aufweist. Die Grenzlinien, welche unsere für die einzelnen Zeit-
abschnitte entworfenen Verbreitungskarten zeigen, werden damit
vielerorts zur Hilfsmaßnahme, und wenn schon die Dinge in bezug
auf den verhältnismäßig gut erforschten germanischen Raum der-
gestalt liegen, wie unsicher ist dann unser Wissen erst anderwärts!
Bekanntlich wird von verschiedenen Seiten die Vorstellung eines
gotischen, bzw. überhaupt ostgermanischen Anteiles an dem heu-
tigen Ostpreußen vertreten. Doch hat M. Ebert in einem ebenso
kurzen wie eindringlichen Hinweis1 darauf aufmerksam gemacht,
daß die Typologie hier nur germanische Einflüsse, nicht aber Ger-
manen selbst sehen könne, daß ,,das Auftreten ausgesprochener
Degenerationserscheinungen in einem Gebiet, wo man klopfendes
Leben erwarten sollte“, gegen die These einer germanischen Ge-
bietsausweitung spreche, und daß es auch nichts nütze, wenn man
,,Typen, die, höchstens typologisch interessant, in hybriden For-
men in den samländischen und masurischen Grabinventaren auf-
treten“, als „Höhepunkte feinsten Geschmackes“ hinstelle. So
1 Elbinger- Jahrbuch 5/6, 1927, 115. -— Vgl. auch die Inhaltsangabe in
der Deutschen Literaturzeitung 1927, 2284. Ebert „sieht hier eine Misch-
kultur, nicht im Sinne einer ‘Knechtungstheorie’, sondern er versteht darunter
‘die friedliche kulturelle Beeinflussung von seiten der überlegenen germani-
schen Kultur des Westens auf die altpreußische, aistische, wobei die Einspren-
gung ethnischer Splitter gotischer Herkunft innerhalb des aistischen Besied-
lungsgebietes nicht ausgeschlossen sei’.“
E. Wahle:
genannten unterscheidet, als in ihm dem raumgewinnenden Volks-
tum die diesem letzteren eigene Gesittung nicht zu folgen vermag.
Nach den Schriftquellen besitzen die Bodenständigen genügend
Kraft, die zugewanderten Germanen in sich aufzunehmen, und das
bedeutet eine Bestätigung des typologischen Studiums, welches
seinerseits ja ebenfalls den Vorgang der Keltisierung deutlich zu
erkennen gibt. Dieser vorübergehende germanische Gebietsgewinn
würde uns verschlossen bleiben, wenn wir ihn nicht aus den Schrift-
quellen nachweisen könnten; ist nicht gerade damit die Richtig-
keit der hier entwickelten Anschauung bewiesen, in den Kultur-
provinzen zeige sich weniger das Gebiet der einzelnen Stämme und
Völker als dasjenige der stärkeren Lebenskraft?
Dementsprechend gilt es nun aber auch, diese Erkenntnis auf
die schriftlosen Bereiche der Frühgeschichte anzuwenden. Wie not-
wendig dies ist, erhellt z. B. daraus, daß die für gewöhnlich als
recht gesichert angesehene Entwicklung des germanischen Siede-
lungsgebietes bei näherer Betrachtung eine Fülle offener Fragen
aufweist. Die Grenzlinien, welche unsere für die einzelnen Zeit-
abschnitte entworfenen Verbreitungskarten zeigen, werden damit
vielerorts zur Hilfsmaßnahme, und wenn schon die Dinge in bezug
auf den verhältnismäßig gut erforschten germanischen Raum der-
gestalt liegen, wie unsicher ist dann unser Wissen erst anderwärts!
Bekanntlich wird von verschiedenen Seiten die Vorstellung eines
gotischen, bzw. überhaupt ostgermanischen Anteiles an dem heu-
tigen Ostpreußen vertreten. Doch hat M. Ebert in einem ebenso
kurzen wie eindringlichen Hinweis1 darauf aufmerksam gemacht,
daß die Typologie hier nur germanische Einflüsse, nicht aber Ger-
manen selbst sehen könne, daß ,,das Auftreten ausgesprochener
Degenerationserscheinungen in einem Gebiet, wo man klopfendes
Leben erwarten sollte“, gegen die These einer germanischen Ge-
bietsausweitung spreche, und daß es auch nichts nütze, wenn man
,,Typen, die, höchstens typologisch interessant, in hybriden For-
men in den samländischen und masurischen Grabinventaren auf-
treten“, als „Höhepunkte feinsten Geschmackes“ hinstelle. So
1 Elbinger- Jahrbuch 5/6, 1927, 115. -— Vgl. auch die Inhaltsangabe in
der Deutschen Literaturzeitung 1927, 2284. Ebert „sieht hier eine Misch-
kultur, nicht im Sinne einer ‘Knechtungstheorie’, sondern er versteht darunter
‘die friedliche kulturelle Beeinflussung von seiten der überlegenen germani-
schen Kultur des Westens auf die altpreußische, aistische, wobei die Einspren-
gung ethnischer Splitter gotischer Herkunft innerhalb des aistischen Besied-
lungsgebietes nicht ausgeschlossen sei’.“