Erstes Hauptstück: Untersuchungen, IV. Die Quellen der Predigten.
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die selbst im Bannkreis des Areopagiten stehen, wie z. B. Johannes
Scotus Eriugena, Meister Eckhart und Jordan von Quedlin-
rurg. Des erstem Prolog zum Johannesevangelium zitiert er —
freilich unter dem Namen des Origenes — in Pr. 13 (25. Dezember
1438). Über die Beziehung zu den beiden andern habe ich früher
bereits ausführlicher gehandelt1. Die erste Benutzung Jordans
findet sich in, Pr. 60 (1446), die ersten EcKHART-Zitate in den
Pr. 133 und 134 vom 27. Dezember 1453 und 1. Januar 1454. Da
er aber seit 1444 eine große Sammlung lateinischer Schriften des
Meisters besaß (Cod. Cusan. 21), so bleibt die Frage offen, ob sich
in den Predigten vor 1449 schon deren Benutzung nachweisen läßt2.
In quellenanalytischer Sicht dürfte also diese Wendung zu
Dionysius und den ihm verwandten Denkern, den ,,wahren Theo-
logen“, das Kennzeichen der Predigten seit 1439 sein. Es ist selbst-
verständlich, daß auch andere Väter und scholastische Theologen
1 Vgl. Pred. 2/5, S. 34ff. und 55f.
2 J. Ritter hat in seinem Bericht über „Die Stellung des Nicolaus von
Cues in der Philosophiegeschichte“, Blätter für Deutsche Philosophie 13 (1939),
S. 111—155, auch zu meiner These, daß „De docta ignorantia“ nicht unter
dem Einfluß Eckharts entstanden ist, kritisch Stellung genommen (S. 135ff.).
Er beruft sich ihr gegenüber vor allem auf die wesentliche und innere Überein-
stimmung der metaphysischen Lehren beider Denker. Diese Übereinstim-
mung braucht aber keineswegs auf einer Abhängigkeit des einen vom andern
zu beruhen, sondern kann sich auch aus der Abhängigkeit von gemeinsamen
Quellen erklären. Dazu gehört m. E. vor allem die Schule von Chartres. Es
wäre z. B. sehr wünschenswert, wenn der von den Herausgebern herangezo-
gene anonyme Kommentar zu Boethius De trinitate (Cod. Berolin. Lat.
fol. 817) veröffentlicht würde. Dann könnte man sehen, daß Dinge, die
manche für spezifisch eckhartisch ansehen, bereits im 12. Jhd. gesagt wor-
den sind. Zudem sind einzelne Argumente, die Ritter zum Beweis seiner
These vorbringt, mißlungen. Am schlimmsten steht es um folgendes: „Und
in Übereinstimmung mit der cusanischen Aufhebung des Satzes vom Wider-
spruch für das Sein, heißt es bei Pfeiffer, X, 56: Tusend engel in der ewikeit
ist niht mere an der zal denne zwene oder einer, wan in der ewikeit ist niht
zal; ez ist obe aller zal“ (S. 137). Dieser Satz hat mit der Aufhebung des
Widerspruchsprinzips nichts zu tun. Die Verschiedenheit rein geistiger Wesen
ist nach Eckharts Lehre keine zahlenmäßige Verschiedenheit, weil Zahl nur
da vorhanden sein kann, wo es sich um Quantitäten handelt. Die Verschieden-
heit beruht dort vielmehr auf der Verschiedenheit der Form; es ist also eine
spezifische Verschiedenheit. Etwas aber zusammenzuzählen, was spezifisch
verschieden ist, ist sinnlos. Wir sind bei den rein geistigen Wesen also auf
einer Seinsebene, die oberhalb alles Zahlenmäßigen liegt. Darüber äußert
sich Eckhart in Sermo XI, 2 n. 118, S. Ulf. Vgl. auch Thomas, S. theol. I
q. 50 a. 3.
3 Sitzungsberichte d. Heidelb. Akad., phil.-hist. Kl. 1941/42. 1. Abh.
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die selbst im Bannkreis des Areopagiten stehen, wie z. B. Johannes
Scotus Eriugena, Meister Eckhart und Jordan von Quedlin-
rurg. Des erstem Prolog zum Johannesevangelium zitiert er —
freilich unter dem Namen des Origenes — in Pr. 13 (25. Dezember
1438). Über die Beziehung zu den beiden andern habe ich früher
bereits ausführlicher gehandelt1. Die erste Benutzung Jordans
findet sich in, Pr. 60 (1446), die ersten EcKHART-Zitate in den
Pr. 133 und 134 vom 27. Dezember 1453 und 1. Januar 1454. Da
er aber seit 1444 eine große Sammlung lateinischer Schriften des
Meisters besaß (Cod. Cusan. 21), so bleibt die Frage offen, ob sich
in den Predigten vor 1449 schon deren Benutzung nachweisen läßt2.
In quellenanalytischer Sicht dürfte also diese Wendung zu
Dionysius und den ihm verwandten Denkern, den ,,wahren Theo-
logen“, das Kennzeichen der Predigten seit 1439 sein. Es ist selbst-
verständlich, daß auch andere Väter und scholastische Theologen
1 Vgl. Pred. 2/5, S. 34ff. und 55f.
2 J. Ritter hat in seinem Bericht über „Die Stellung des Nicolaus von
Cues in der Philosophiegeschichte“, Blätter für Deutsche Philosophie 13 (1939),
S. 111—155, auch zu meiner These, daß „De docta ignorantia“ nicht unter
dem Einfluß Eckharts entstanden ist, kritisch Stellung genommen (S. 135ff.).
Er beruft sich ihr gegenüber vor allem auf die wesentliche und innere Überein-
stimmung der metaphysischen Lehren beider Denker. Diese Übereinstim-
mung braucht aber keineswegs auf einer Abhängigkeit des einen vom andern
zu beruhen, sondern kann sich auch aus der Abhängigkeit von gemeinsamen
Quellen erklären. Dazu gehört m. E. vor allem die Schule von Chartres. Es
wäre z. B. sehr wünschenswert, wenn der von den Herausgebern herangezo-
gene anonyme Kommentar zu Boethius De trinitate (Cod. Berolin. Lat.
fol. 817) veröffentlicht würde. Dann könnte man sehen, daß Dinge, die
manche für spezifisch eckhartisch ansehen, bereits im 12. Jhd. gesagt wor-
den sind. Zudem sind einzelne Argumente, die Ritter zum Beweis seiner
These vorbringt, mißlungen. Am schlimmsten steht es um folgendes: „Und
in Übereinstimmung mit der cusanischen Aufhebung des Satzes vom Wider-
spruch für das Sein, heißt es bei Pfeiffer, X, 56: Tusend engel in der ewikeit
ist niht mere an der zal denne zwene oder einer, wan in der ewikeit ist niht
zal; ez ist obe aller zal“ (S. 137). Dieser Satz hat mit der Aufhebung des
Widerspruchsprinzips nichts zu tun. Die Verschiedenheit rein geistiger Wesen
ist nach Eckharts Lehre keine zahlenmäßige Verschiedenheit, weil Zahl nur
da vorhanden sein kann, wo es sich um Quantitäten handelt. Die Verschieden-
heit beruht dort vielmehr auf der Verschiedenheit der Form; es ist also eine
spezifische Verschiedenheit. Etwas aber zusammenzuzählen, was spezifisch
verschieden ist, ist sinnlos. Wir sind bei den rein geistigen Wesen also auf
einer Seinsebene, die oberhalb alles Zahlenmäßigen liegt. Darüber äußert
sich Eckhart in Sermo XI, 2 n. 118, S. Ulf. Vgl. auch Thomas, S. theol. I
q. 50 a. 3.
3 Sitzungsberichte d. Heidelb. Akad., phil.-hist. Kl. 1941/42. 1. Abh.