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Ernst A. Schmidt
“Augustine’s greatest originality lies in his insistence on the indispen-
sable function of memory in all time calculation“33.
(Zu 1) Die Präsenz des Vergangenen in den „imagines“ in der
Seele, den Spuren aus dem sinnlichen Eindruck des Ereignisses, als es
geschah (nach der Bildertheorie aus der „memoria“-Abhandlung des
zehnten Buches), hat wie für Augustin so auch für uns eine gewisse
Plausibilität metaphorischer Angemessenheit. Diese „imagines“ set-
zen das „praeterire“ der Ereignisse voraus. Kann es „imagines“ geben
von Ereignissen, die erst zukünftig sind, die auf uns zukommen'’4?
Augustin sagt: „confiteor, deus meus, nescio“ (conf. 11, 18, 23); er ist
sich in seinem Innern keines präsenten Bildes seiner Zukunft bewußt
(von dem Bild etwa der Seligkeit der genießenden Schau Gottes ganz
zu schweigen).
Dennoch ist alles, was er dann zur denkbaren Präsenzweise des
Zukünftigen in der Seele erwägt, nach Analogie der Erinnerungsbilder
vorgestellt. Da ist einmal die präsente „imaginatio“ als eine „concep-
tio“, die der Mensch „apud se intuetur“ und die als gesehene ist, d. h.
präsent (anwesend und gegenwärtig) ist (conf. 11,18,24); und da ist die
präsente „praemeditatio“ zukünftiger Handlungen (conf. 11, 18, 23).
Beide sind in mannigfaltiger Weise mit Vergangenheit und Erinnerung
verwandt und verbunden. Als innere Anschauungen sind sie den Erin-
nerungsbildern analoge Affektionen, Einprägungen in der Seele ohne
äußeren Sinneseindruck, aber ohne die Voraussetzung entsprechender
Sinneseindrücke in der Vergangenheit nicht denkbar53 54 55. Darüber hin-
aus werden die präsenten Vorstellungen, auf denen Zukunftsvoraus-
sagen beruhen, von sinnlichen Eindrücken ausgelöst, die von Ereignis-
sen erzeugt werden, die für die zukünftigen Ereignisse „causae vel
signa“ sind, z. B. die Morgenröte, die ich sehe, für den zukünftigen
Aufgang der Sonne (conf. 11,18,24). Hier wird dann auch deutlich, daß
das Verhältnis von gegenwärtiger sinnlicher Anschauung der Morgen-
röte und präsenter Imagination des zukünftigen Sonnenaufgangs eine
Analogiebildung zur Anschauung zweier miteinander verbundener
53 O’Daly, A. on Measurement of Time, S. 177 (vgl. S. 175 ff.)
54 Zu „praeterire“ und „advenire“ vgl. conf. 11,14, 17; zu „praeterire“ und „imagines“
vgl. conf. 11, 18, 23.
55 Immerhin kennt Augustin Vergangenheitsbilder auch ohne eigenes sinnliches
Erlebnis des Ereignisses und über die eigene Lebenszeit hinaus in die Vergangen-
heit, nämlich z.B. das Zeugnis der Eltern und anderer über die früheste Kindheit,
von der es keine „memoria“ gibt, die Bibel und die Geschichtsschreibung. Vgl.
conf. 1, 6, 7-10, sowie generell 10, 8, 14 und Buch X passim.
Ernst A. Schmidt
“Augustine’s greatest originality lies in his insistence on the indispen-
sable function of memory in all time calculation“33.
(Zu 1) Die Präsenz des Vergangenen in den „imagines“ in der
Seele, den Spuren aus dem sinnlichen Eindruck des Ereignisses, als es
geschah (nach der Bildertheorie aus der „memoria“-Abhandlung des
zehnten Buches), hat wie für Augustin so auch für uns eine gewisse
Plausibilität metaphorischer Angemessenheit. Diese „imagines“ set-
zen das „praeterire“ der Ereignisse voraus. Kann es „imagines“ geben
von Ereignissen, die erst zukünftig sind, die auf uns zukommen'’4?
Augustin sagt: „confiteor, deus meus, nescio“ (conf. 11, 18, 23); er ist
sich in seinem Innern keines präsenten Bildes seiner Zukunft bewußt
(von dem Bild etwa der Seligkeit der genießenden Schau Gottes ganz
zu schweigen).
Dennoch ist alles, was er dann zur denkbaren Präsenzweise des
Zukünftigen in der Seele erwägt, nach Analogie der Erinnerungsbilder
vorgestellt. Da ist einmal die präsente „imaginatio“ als eine „concep-
tio“, die der Mensch „apud se intuetur“ und die als gesehene ist, d. h.
präsent (anwesend und gegenwärtig) ist (conf. 11,18,24); und da ist die
präsente „praemeditatio“ zukünftiger Handlungen (conf. 11, 18, 23).
Beide sind in mannigfaltiger Weise mit Vergangenheit und Erinnerung
verwandt und verbunden. Als innere Anschauungen sind sie den Erin-
nerungsbildern analoge Affektionen, Einprägungen in der Seele ohne
äußeren Sinneseindruck, aber ohne die Voraussetzung entsprechender
Sinneseindrücke in der Vergangenheit nicht denkbar53 54 55. Darüber hin-
aus werden die präsenten Vorstellungen, auf denen Zukunftsvoraus-
sagen beruhen, von sinnlichen Eindrücken ausgelöst, die von Ereignis-
sen erzeugt werden, die für die zukünftigen Ereignisse „causae vel
signa“ sind, z. B. die Morgenröte, die ich sehe, für den zukünftigen
Aufgang der Sonne (conf. 11,18,24). Hier wird dann auch deutlich, daß
das Verhältnis von gegenwärtiger sinnlicher Anschauung der Morgen-
röte und präsenter Imagination des zukünftigen Sonnenaufgangs eine
Analogiebildung zur Anschauung zweier miteinander verbundener
53 O’Daly, A. on Measurement of Time, S. 177 (vgl. S. 175 ff.)
54 Zu „praeterire“ und „advenire“ vgl. conf. 11,14, 17; zu „praeterire“ und „imagines“
vgl. conf. 11, 18, 23.
55 Immerhin kennt Augustin Vergangenheitsbilder auch ohne eigenes sinnliches
Erlebnis des Ereignisses und über die eigene Lebenszeit hinaus in die Vergangen-
heit, nämlich z.B. das Zeugnis der Eltern und anderer über die früheste Kindheit,
von der es keine „memoria“ gibt, die Bibel und die Geschichtsschreibung. Vgl.
conf. 1, 6, 7-10, sowie generell 10, 8, 14 und Buch X passim.