Metadaten

Schmidt, Ernst A.; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1985, 3. Abhandlung): Zeit und Geschichte bei Augustin: vorgetragen am 14. Juli 1984 — Heidelberg: Winter, 1985

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.47817#0054
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
52

Ernst A. Schmidt

Bei Augustin dagegen gibt es für Vergangenheit und Zukunft den
gleichen Bezug zur Ewigkeit. Damit fällt jede Gerichtetheit der Zeit
fort. Die Ewigkeit ist nicht einerseits Ursprung und andererseits Ziel
der Zeit, sondern gleichsam ihre Mitte, von der aus die Zeit nach zwei
Seiten in die „Zeiten“ gewissermaßen auseinanderbricht. Aus dieser
Mitte „entstehen und laufen aus“ („creari et excurrere“) Vergangenheit
und Zukunft, und zwar läuft die Vergangenheit in Richtung Vergan-
genheit und die Zukunft in Richtung Zukunft104. Schon am Anfang der
Confessiones (conf. 1, 6,10) lesen wir, Gottes Ewigkeit sei das „Heute“,
an dem er alles Morgige und alles Gestrige tue. Die Ewigkeit ist die
Mitte, weil sie das Heute ist: „hodiernus tuus aeternitas“ (conf. 11,13,
16). Die „distentio animi“ in Vergangenheit und Zukunft und das „Zer-
springen in die Zeiten“ sind nur aus diesem ungeschiedenen Ausgang
aus der Ewigkeit, der Andersheit gegenüber ihr bedeutet, und in der
gleichartigen Dimension von Vergangenheit und Zukunft im Gegen-
über zur Ewigkeit zu verstehen, worin sich gerade auch die fehlende
Einheit der Zeit äußert.
Mitte der Zeit als Formel für die Ewigkeit ist eine Metapher, die
Augustin selbst nicht gebraucht. Sie ist berechtigt wegen des Ausgangs
von Vergangenheit und Zukunft aus ihr als Vergangenheit und als
Zukunft. Sie ist insofern um so mehr berechtigt, als Ewigkeit ewige
Gegenwart ist, als das Nicht-Ewigkeit-Sein der Zeit Vergangenheit und
Zukunft an ihr sind, d. h. insofern als die Gegenwart des Menschen
Ewigkeit wäre, träfen einander in ihr nicht unaufhörlich Zukunft und
Vergangenheit in stetiger Bewegung. Jeder gegenwärtige Augenblick
des Menschen ist also immer nach Vergangenheit und Zukunft hin
bewegt. Darin ist Augustin Platoniker, gerade nicht Neuplatoniker.
104 Damit wird nicht geleugnet, daß der Haupteindruck aus der augustinischen Zeit-
abhandlung gewiß der ist, von „advenire“ und „praeterire“ verbürgt, daß die Zeit in
die Vergangenheit läuft - im Gegensatz zu Plotin (vgl. Verwiebe, Welt u. Zeit bei
A., S. 82). Aber Augustin kann auch (ebenfalls im Unterschied zu Plotin) beide
Zeitrichtungen nebeneinander stellen: „omne praeteritum propelli ex futuro et
omne futurum ex praeterito consequi“ (conf. 11,11, 13), nämlich zuerst sagen, die
Vergangenheit gehe aus der Zukunft hervor, und dann, die Zukunft folge der Ver-
gangenheit. „propelli ex futuro“ besagt nicht, daß der Zukunft alles Vergangene
fremd sei („tout passe est banni du futur“, Übersetzung BA 14), weil sie es verjage
(„est chasse par l’avenir“, Übersetzung Labriolle; “driven away by” Watts; „ver-
drängt von“ Thimme: alle, als ob „a“ bzw. abl. instr. dastünde), sondern daß alle
Vergangenheit (als ehemalige Zukunft) aus der Zukunft hervor- und weggetrieben
werde und eben dadurch jeweils Vergangenheit entstehe.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften