den Gestühlen von Konstanz (72 Sitze), Ulm (89) oder Memmingen (67) bescheiden war. Die
ikonographisch-theologische Gesamtgestaltung geht über die traditionellen Bildprogramme anderer
Gestühle im Gehalt hinaus und ist, wie Janssen aufgezeigt hat, nicht nur an der linearen Abfolge der
Stallen und Pulte ablesbar. Vielmehr bindet die Interpretation beide Seiten des Gestühls antithetisch
zusammen, etwa den Propheten Joel mit seiner Ankündigung des Pfingstereignisses mit dem ihm
genau gegenübergestellten Petrus; ebenso entspricht bei den Pultreliefs die Vierergruppe der Evan-
gelisten (SP4-SP7) der Vierergruppe der Kirchenlehrer gegenüber (NP4-NP7).
Eine weitere Besonderheit des Herrenberger Gestühls sind die Textstellen, die hier den Kirchenvätern
auf den Brüstungsreliefs in ihre Bücher geschrieben wurden (NP2, NP4-NP7). Alle fünf Texte haben
Überlegungen über die rechte Art des Gebets zum Inhalt, wobei sich fast alle auf das gesungene Chor-
gebet beziehen. Es sind also Mahnsätze, die in dem Gebot des hl. Hieronymus zusammengefaßt sind,
man solle nicht nur mit dem Munde, sondern mit dem Herzen beten (NP4). Die Mahnungen gipfeln in
dem hier mit Bernhard von Clairvaux verbundenen Gebot (NP2), dem Zusammenklang der Stimmen
beim Gesang die Harmonie der Sitten (concordia morum) folgen zu lassen42. Solche an die Adresse des
Klerus gerichtete Mahnsprüche waren offenbar Ende des 15.Jahrhunderts weit verbreitet; meist in
Form lateinischer Verse ohne Quellenangabe standen sie am Chorgestühl oder als Wandinschriften im
Chorbereich dem Kleriker vor Augen43. Allerdings erklären sie sich wohl weniger aus der Unzufrie-
denheit der Bevölkerung mit dem Lebenswandel der Geistlichen vor der Reformation44 als aus der
wachsenden Intensität der Frömmigkeit, die ja Ursprung auch der Devotio moderna gewesen ist.
Die Verwendung von drei Schriftarten, die gewissermaßen hierarchisch den verschiedenen Personen-
kreisen zugeordnet wurden, ist nicht ungewöhnlich; dies ist schon am Ulmer Chorgestühl von
1468 — 1474 und vor allem am Memminger Gestühl 1501 — 1507 zu beobachten, wo zahlreiche Schrif-
ten wie in einer Musterkarte nebeneinanderstehen. In Herrenberg verdient vor allem die sog. Früh-
humanistische Kapitahs als „Hauptschrift“ Beachtung. Sie beweist ihre Affinität zur Gotischen Majus-
kel durch die Verwendung einer Reihe von Unzial-Buchstaben, wie B, D, G, E, H sowie L mit
Balkensporn. Auffallend ist die HS-Ligatur am Wortende, z. B. bei den Namen der Kirchenväter; sie
stellt einen bewußten Rückgriff auf die vorgotische Schrift dar. Daß diese Schrift hier eingesetzt ist als
die Schrift der Vertreter des „Alten Bundes“, verrät ihren retrospektiven Charakter, der zurückweist
auf eine ältere Überlieferungsschicht des Heilsplanes Gottes. Die Wahl gerade dieser Schriftart auch für
die Meister-Signatur hatte Tradition4-1. Die häufigen Ligaturen scheinen als ein Kunstmittel verwendet
mit dem Ziel, einen möglichst manierierten „kunstvollen“ Schriftstil zu erzeugen, ohne daß dafür
besondere Verzierungen benötigt wurden. Als Buchstabenformen dieser Kapitalis sind im einzelnen
hervorzuheben: das spitze A mit übergroßem Deckbalken und nach unten eingeknicktem Mittel-
balken, das einbogige unziale E neben zweibogigem kapitalem E, spiralförmig eingerolltes G, trapez-
förmiges Mmit kurzem Mittelteil, Noft retrograd und mit Ausbuchtung im Schrägbalken. Zierstriche
und Schleifen kommen nur an den Versalien der Gotischen Minuskel vor, die teilweise der Fraktur
entnommen sind. Meist steht nur ein einziger Versal am Anfang der Apostel-Schriftbänder. Die
Gestaltung der Minuskelschrift ist schlicht und klar trotz des unruhigen Duktus, der durch die Falten
der Schriftbänder bedingt ist. Ober- und Unterlängen sind wenig ausgeprägt, die Schäfte enden oben
und unten meist in Quadrangeln.
Die auffälligste Schrift ist die in Inschriften seltene Gotico-Humanistica oder Humanistische Minus-
kel ohne festen Formenkanon, aber mit dem Charakter einer Buch-Kursive; ihr Ort sind die aufge-
schlagenen Bücher der Väter sowie mehrfach die Bibelstellen-Nachweise auf den Spruchbändern der
Propheten. Diese Schrift wird beherrscht von gerundeten Bogenformen und schrägstehenden/ / und
langen s, einstöckigem a und dem i mit i-Punkt. Vergleichbar sind die Inschriften des von Jörg Syrlin
d.J. 1512 signierten Chorgestühls der Geislinger Stadtkirche46.
a So für VICTIMA.
b So für cognoui.
c So für terrae.
d Kürzung für PSALMVS: P und kleines, hochgestelltes S.
e Kürzung für PSALMVS: kleines A zwischen P und S hochgestellt.
f So für GENVI (TE); die letzten zwei Worte in kleineren Buchstaben unter die Zeile gesetzt.
g Kürzung mittels Durchstreichung des linken Schrägschafts bei V.
h So statt mortuis.
i Das S kleiner und hochgestellt.
j Das R klein in O eingeschrieben, die /«-Kürzung hochgestellt,
k Das O klein und hochgestellt.
1 Das T klein und hochgestellt.
m Die Endung klein und hochgestellt; das A in kleinerem Schriftgrad.
n So für CA(PITVLO) tertio. Die Ordnungszahl ist durch die arabische Ziffer 3 und ein kleines hochgestelltes o von
tertio angegeben.
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ikonographisch-theologische Gesamtgestaltung geht über die traditionellen Bildprogramme anderer
Gestühle im Gehalt hinaus und ist, wie Janssen aufgezeigt hat, nicht nur an der linearen Abfolge der
Stallen und Pulte ablesbar. Vielmehr bindet die Interpretation beide Seiten des Gestühls antithetisch
zusammen, etwa den Propheten Joel mit seiner Ankündigung des Pfingstereignisses mit dem ihm
genau gegenübergestellten Petrus; ebenso entspricht bei den Pultreliefs die Vierergruppe der Evan-
gelisten (SP4-SP7) der Vierergruppe der Kirchenlehrer gegenüber (NP4-NP7).
Eine weitere Besonderheit des Herrenberger Gestühls sind die Textstellen, die hier den Kirchenvätern
auf den Brüstungsreliefs in ihre Bücher geschrieben wurden (NP2, NP4-NP7). Alle fünf Texte haben
Überlegungen über die rechte Art des Gebets zum Inhalt, wobei sich fast alle auf das gesungene Chor-
gebet beziehen. Es sind also Mahnsätze, die in dem Gebot des hl. Hieronymus zusammengefaßt sind,
man solle nicht nur mit dem Munde, sondern mit dem Herzen beten (NP4). Die Mahnungen gipfeln in
dem hier mit Bernhard von Clairvaux verbundenen Gebot (NP2), dem Zusammenklang der Stimmen
beim Gesang die Harmonie der Sitten (concordia morum) folgen zu lassen42. Solche an die Adresse des
Klerus gerichtete Mahnsprüche waren offenbar Ende des 15.Jahrhunderts weit verbreitet; meist in
Form lateinischer Verse ohne Quellenangabe standen sie am Chorgestühl oder als Wandinschriften im
Chorbereich dem Kleriker vor Augen43. Allerdings erklären sie sich wohl weniger aus der Unzufrie-
denheit der Bevölkerung mit dem Lebenswandel der Geistlichen vor der Reformation44 als aus der
wachsenden Intensität der Frömmigkeit, die ja Ursprung auch der Devotio moderna gewesen ist.
Die Verwendung von drei Schriftarten, die gewissermaßen hierarchisch den verschiedenen Personen-
kreisen zugeordnet wurden, ist nicht ungewöhnlich; dies ist schon am Ulmer Chorgestühl von
1468 — 1474 und vor allem am Memminger Gestühl 1501 — 1507 zu beobachten, wo zahlreiche Schrif-
ten wie in einer Musterkarte nebeneinanderstehen. In Herrenberg verdient vor allem die sog. Früh-
humanistische Kapitahs als „Hauptschrift“ Beachtung. Sie beweist ihre Affinität zur Gotischen Majus-
kel durch die Verwendung einer Reihe von Unzial-Buchstaben, wie B, D, G, E, H sowie L mit
Balkensporn. Auffallend ist die HS-Ligatur am Wortende, z. B. bei den Namen der Kirchenväter; sie
stellt einen bewußten Rückgriff auf die vorgotische Schrift dar. Daß diese Schrift hier eingesetzt ist als
die Schrift der Vertreter des „Alten Bundes“, verrät ihren retrospektiven Charakter, der zurückweist
auf eine ältere Überlieferungsschicht des Heilsplanes Gottes. Die Wahl gerade dieser Schriftart auch für
die Meister-Signatur hatte Tradition4-1. Die häufigen Ligaturen scheinen als ein Kunstmittel verwendet
mit dem Ziel, einen möglichst manierierten „kunstvollen“ Schriftstil zu erzeugen, ohne daß dafür
besondere Verzierungen benötigt wurden. Als Buchstabenformen dieser Kapitalis sind im einzelnen
hervorzuheben: das spitze A mit übergroßem Deckbalken und nach unten eingeknicktem Mittel-
balken, das einbogige unziale E neben zweibogigem kapitalem E, spiralförmig eingerolltes G, trapez-
förmiges Mmit kurzem Mittelteil, Noft retrograd und mit Ausbuchtung im Schrägbalken. Zierstriche
und Schleifen kommen nur an den Versalien der Gotischen Minuskel vor, die teilweise der Fraktur
entnommen sind. Meist steht nur ein einziger Versal am Anfang der Apostel-Schriftbänder. Die
Gestaltung der Minuskelschrift ist schlicht und klar trotz des unruhigen Duktus, der durch die Falten
der Schriftbänder bedingt ist. Ober- und Unterlängen sind wenig ausgeprägt, die Schäfte enden oben
und unten meist in Quadrangeln.
Die auffälligste Schrift ist die in Inschriften seltene Gotico-Humanistica oder Humanistische Minus-
kel ohne festen Formenkanon, aber mit dem Charakter einer Buch-Kursive; ihr Ort sind die aufge-
schlagenen Bücher der Väter sowie mehrfach die Bibelstellen-Nachweise auf den Spruchbändern der
Propheten. Diese Schrift wird beherrscht von gerundeten Bogenformen und schrägstehenden/ / und
langen s, einstöckigem a und dem i mit i-Punkt. Vergleichbar sind die Inschriften des von Jörg Syrlin
d.J. 1512 signierten Chorgestühls der Geislinger Stadtkirche46.
a So für VICTIMA.
b So für cognoui.
c So für terrae.
d Kürzung für PSALMVS: P und kleines, hochgestelltes S.
e Kürzung für PSALMVS: kleines A zwischen P und S hochgestellt.
f So für GENVI (TE); die letzten zwei Worte in kleineren Buchstaben unter die Zeile gesetzt.
g Kürzung mittels Durchstreichung des linken Schrägschafts bei V.
h So statt mortuis.
i Das S kleiner und hochgestellt.
j Das R klein in O eingeschrieben, die /«-Kürzung hochgestellt,
k Das O klein und hochgestellt.
1 Das T klein und hochgestellt.
m Die Endung klein und hochgestellt; das A in kleinerem Schriftgrad.
n So für CA(PITVLO) tertio. Die Ordnungszahl ist durch die arabische Ziffer 3 und ein kleines hochgestelltes o von
tertio angegeben.
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