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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2003 — 2004

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I. Das Geschäftsjahr 2003
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Sitzung der Phil.-hist. Klasse am 7. Februar 2003
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Schmidt, Ernst A.: Rudolf Borchardts Antike
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https://doi.org/10.11588/diglit.67592#0040
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SITZUNGEN

WISSENSCHAFTLICHE SITZUNG
Herr Ernst A. Schmidt hält einen Vortrag: „Rudolf Borchardts Antike“.
Der Umgang des als Klassischer Philologe ausgebildeten Gelehrten, Dichters, Über-
setzers, Kritikers, Essayisten und Redners Rudolf Borchardt (1877-1945) mit der
Antike ist eigenwillig. Der Eigen-Sinn seiner Antikebilder stellt eine Funktion sei-
ner Modernismuskritik dar. Seme Antike bildet einen Aspekt seiner Gesamtkonzep-
tion, die zugleich das Mittelalter, Herder, Goethe, Schiller, Kleist, die Romantik zu
reaktivieren unternahm und sich als Gericht und Bußruf, als Diagnose der Krank-
heit Moderne und Therapie verstand. Will man angesichts der Hybris des Anspruchs,
der gelegentlich irrwitzigen Polemik und das Groteske streifenden Fehlurteile
Borchardt nicht von vornherein als pathologischen Charakter beiseiteschieben, son-
dern den Versuch wagen, ihm gerecht zu werden, so muß man sich darauf einlassen,
ihn als Leidenden zu verstehen und hypothetisch anzuerkennen, daß die Zeit, in der
er lebte, als krank und auch krankmachend erfahren werden konnte. Dagegen darf
man seinen Widerstand nicht mit Stefan Breuer als ‘Aufstand gegen die Moderne’
und als Religionssurrogat und also als krankhaften Vorgang am gesunden Körper der
Moderne verstehen, dessen vitale Konstitution von Aufklärung und Säkularisation,
Wissenschaft und Liberalismus bedingt sei. Borchardts Selbstverständnis jedenfalls
ist die pointierte Umkehrung dieser Diagnose. Die angeblichen pathologischen
Erscheinungen sind in Wahrheit das einzig Gesunde am krankhaft zersetzten Leib
der modernen Welt oder stellen die einzig rettende Therapie für ihn dar.
Borchardts eigene Formel der ‘schöpferischen Restauration’ aus der gleichna-
migen Münchner Rede von 1927 definiert seine Intention; sie ist auf Erneuerung
gerichtet aus dem Bewußtsein, Erbe einer Tradition zu sein, die zur Lösung der
zeitgenössischen Aufgabe der Wirklichkeitsdeutung und -Veränderung durch das
Wort des Dichters beitragen soll. ‘Schöpferische Restauration’ umschließt ein Vor-
stellungsgeflecht aus Rückgang und Wiederholung, Restitution, Kritik, Erlebnis,
Schöpfung, Liebe. Sie ist daher, im Blick auf die Antike, em Unternehmen, in dem
sich philologische Kritik und dichterische Schöpfung vereinen. Aus der Not der
Zeitgenossenschaft stellt sich existenzielle Geschichtshermeneutik in den Dienst der
Schöpfung aus Liebe für die Not der Zeit. Im Zusammenhang damit steht das
Gedankenmotiv der „causa victa“ als die Aufgabe, geschichtliche Fehlentwicklungen
zu korrigieren. So lautet eine Selbstcharakterisierung: „[...] der Weg der Mensch-
heit (erschien mir) als vorschwebender Mythus [...], der nirgends zu Ende gekom-
men war und sich in allen seinen Stücken durch mich weiter dichtete“. Die nicht
verwirklichte Zukunft der Vergangenheit soll durch den Dichter Borchardt zu einer
Partikel gegenwärtiger Zukunft werden. Dem Eintreten für die verlorene Sache ent-
spricht ‘der verlorene Posten’ als der Ort des Dichters in der Moderne. Borchardts
Auffassung vom Dichter und dem Dichterischen läßt sich in dem Hamann-Herder-
schen Satz zusammenfassen: „Poesie ist die Muttersprache des Menschenge-
schlechts“. Daher scheidet er Poesie radikal von allen Künsten und trennt sie von
allen ästhetischen Phänomenen ab. Poesie im Urzustand ist heilig, weil sie auf einer
ursprünglichen Einheit beruht, die sich stufenweise in der Geschichte auflöst, der
 
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