Das WIN-Kolleg
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entstand, der seit der Mitte des 16. Jahrhunderts dem Gallikanismus den Weg ebne-
te. Ausgehend von der Annahme, daß die neue Generation von Historikern, die sich
um die ,hommes politiques’ der gemäßigten Partei scharten, nicht nur Geschichte
schrieben, sondern Geschichte — und Politik — machten, wird der Zusammenhang
von Prozessen der Institutionalisierung einer neuen „toleranten“ Herrschaftsform
(Henri IV) und den Vergangenheitskonstruktionen der Gelehrten beleuchtet. Texte
aus Historiographie, Rechtslehre und Literatur zwischen der Mitte des 16. Jahrhun-
derts und dem Beginn der Regierungszeit Louis XIV — der Schwellenperiode zwi-
schen sakralem Königtum und Staatsmonarchie — stellen die Textbasis dar, auf deren
Grundlage untersucht werden soll, warum zu einem bestimmten Zeitpunkt der gal-
lische Ursprungsmythos in Konkurrenz zur Troja-Genealogie treten konnte. In einer
politischen Krisenzeit wird das gallische Erbe nicht nur als Versatzstück wieder ent-
deckt, sondern in mehrfacher Hinsicht radikal umgeschrieben: Semantische, herme-
neutische und genealogische Traditionen werden erschüttert und das Ergebnis als
Gründungsurkunde der französischen ‘Kulturnation’ lesbar.
Frank Bezners (mittel- und neulateinisches) Habilitationsprojekt trägt denTitel
Eine Genealogie der Vergangenheit in der italienischen Renaissance: der Fall Ferrara. Das
Projekt basiert auf Recherchen in den Archiven von Modena (Archivio di Stato,
Biblioteca Estense), Ferrara (Biblioteca Comunale Ariostea), Rom (Biblioteca Apostolica
Vaticana') und London (British Library) sowie auf ersten Auswertungen, Kontextuali-
sierungen, Interpretationen des gefundenen Materials, die am Warburg Institute
(London) durchgeführt wurden. Seine Absicht ist, den bislang von der Forschung
unbearbeiteten bzw. fast gänzlich übersehenen Vergangenheitsdiskurs im Ferrara der
Este — Chroniken, ‘erzählende’ Historien, ‘kritisch’ rekonstruierte historia, Mythisto-
nen/fiktionale Geschichte, ‘Geschichtstheorie’ - erstmals systematisch zu untersu-
chen (ca. erste Hälfte des Trecento bis 1598). Die wichtigsten der gefundenen Quel-
len sollen dabei einerseits philologisch erschlossen werden (Autorschaft, Datierung,
Quellen) .Vor allem aber gilt es, die über sie faßbare Konstruktion von Vergangenheit
‘integrativ’ als Moment ‘dichter’ - intellektueller, sozialer und politischer — Kontex-
te zu interpretieren und differenziert in ihrer diesbezüglichen Stellung und Funkti-
on zu untersuchen. Zentral ist es dabei, den ‘symbolischen’ Diskurs über die Vergan-
genheit auf den zentralen Wandel zu beziehen, der die italienischen Städte zu ,vor-
absolutistischen’,‘staatlichen’ Entitäten werden läßt. Damit wird nicht nur ein Kon-
trapunkt zur bereits hinreichend untersuchten ‘Logik’ der Florentiner humanisti-
schen Historiographie gesetzt, sondern auch ein Perspektivwechsel vollzogen, der sich
von der Herangehensweise unterscheidet, über die die Humanismusforschung die
historia analysiert hat: untersucht wird nämlich nun weder nur ein Aspekt frühmoder-
nen Geschichtsverständnisses (etwa „Geschichtstheorie“, (angebliche) „Überwindung
von Chromstik durch Geschichte“, „Rezeption antiker Historiographie“) noch eine
„Idee der Geschichte“ (oder einen „senso della stona“) bzw. ein bereits greifbares
Geschichtsbewußtsein bzw. -denken. Mit der Analyse des Ineinanders von Rationa-
lität, Imaginärem, Interessen, Politik wird vielmehr eine ‘Genealogie’ (Foucault) mög-
lich: die Entfaltung der humanistischen Konstruktion von Vergangenheit oder
‘Geschichte’ in die tatsächliche intellektuelle und politische Praxis, die sie ‘ist’.
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entstand, der seit der Mitte des 16. Jahrhunderts dem Gallikanismus den Weg ebne-
te. Ausgehend von der Annahme, daß die neue Generation von Historikern, die sich
um die ,hommes politiques’ der gemäßigten Partei scharten, nicht nur Geschichte
schrieben, sondern Geschichte — und Politik — machten, wird der Zusammenhang
von Prozessen der Institutionalisierung einer neuen „toleranten“ Herrschaftsform
(Henri IV) und den Vergangenheitskonstruktionen der Gelehrten beleuchtet. Texte
aus Historiographie, Rechtslehre und Literatur zwischen der Mitte des 16. Jahrhun-
derts und dem Beginn der Regierungszeit Louis XIV — der Schwellenperiode zwi-
schen sakralem Königtum und Staatsmonarchie — stellen die Textbasis dar, auf deren
Grundlage untersucht werden soll, warum zu einem bestimmten Zeitpunkt der gal-
lische Ursprungsmythos in Konkurrenz zur Troja-Genealogie treten konnte. In einer
politischen Krisenzeit wird das gallische Erbe nicht nur als Versatzstück wieder ent-
deckt, sondern in mehrfacher Hinsicht radikal umgeschrieben: Semantische, herme-
neutische und genealogische Traditionen werden erschüttert und das Ergebnis als
Gründungsurkunde der französischen ‘Kulturnation’ lesbar.
Frank Bezners (mittel- und neulateinisches) Habilitationsprojekt trägt denTitel
Eine Genealogie der Vergangenheit in der italienischen Renaissance: der Fall Ferrara. Das
Projekt basiert auf Recherchen in den Archiven von Modena (Archivio di Stato,
Biblioteca Estense), Ferrara (Biblioteca Comunale Ariostea), Rom (Biblioteca Apostolica
Vaticana') und London (British Library) sowie auf ersten Auswertungen, Kontextuali-
sierungen, Interpretationen des gefundenen Materials, die am Warburg Institute
(London) durchgeführt wurden. Seine Absicht ist, den bislang von der Forschung
unbearbeiteten bzw. fast gänzlich übersehenen Vergangenheitsdiskurs im Ferrara der
Este — Chroniken, ‘erzählende’ Historien, ‘kritisch’ rekonstruierte historia, Mythisto-
nen/fiktionale Geschichte, ‘Geschichtstheorie’ - erstmals systematisch zu untersu-
chen (ca. erste Hälfte des Trecento bis 1598). Die wichtigsten der gefundenen Quel-
len sollen dabei einerseits philologisch erschlossen werden (Autorschaft, Datierung,
Quellen) .Vor allem aber gilt es, die über sie faßbare Konstruktion von Vergangenheit
‘integrativ’ als Moment ‘dichter’ - intellektueller, sozialer und politischer — Kontex-
te zu interpretieren und differenziert in ihrer diesbezüglichen Stellung und Funkti-
on zu untersuchen. Zentral ist es dabei, den ‘symbolischen’ Diskurs über die Vergan-
genheit auf den zentralen Wandel zu beziehen, der die italienischen Städte zu ,vor-
absolutistischen’,‘staatlichen’ Entitäten werden läßt. Damit wird nicht nur ein Kon-
trapunkt zur bereits hinreichend untersuchten ‘Logik’ der Florentiner humanisti-
schen Historiographie gesetzt, sondern auch ein Perspektivwechsel vollzogen, der sich
von der Herangehensweise unterscheidet, über die die Humanismusforschung die
historia analysiert hat: untersucht wird nämlich nun weder nur ein Aspekt frühmoder-
nen Geschichtsverständnisses (etwa „Geschichtstheorie“, (angebliche) „Überwindung
von Chromstik durch Geschichte“, „Rezeption antiker Historiographie“) noch eine
„Idee der Geschichte“ (oder einen „senso della stona“) bzw. ein bereits greifbares
Geschichtsbewußtsein bzw. -denken. Mit der Analyse des Ineinanders von Rationa-
lität, Imaginärem, Interessen, Politik wird vielmehr eine ‘Genealogie’ (Foucault) mög-
lich: die Entfaltung der humanistischen Konstruktion von Vergangenheit oder
‘Geschichte’ in die tatsächliche intellektuelle und politische Praxis, die sie ‘ist’.