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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2009 — 2010

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I. Das Geschäftsjahr 2009
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Gesamtsitzung am 24. Januar 2009
DOI Artikel:
Welker, Michael: Die Anthropologie des Paulus als interdisziplinäre Kontakttheorie
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https://doi.org/10.11588/diglit.66333#0086
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SITZUNGEN

Gott. 1 Kor 14,18 dankt er vor den Korinthern Gott, dass er „mehr als ihr alle“ in
Zungen rede — auf welcher Vergleichsbasis auch immer. Dennoch bietet er in diesem
Kontext ein starkes Plädoyer für eine vernünftige Rede in einem vernünftigen Gott-
esdienst: „Wenn du nur im Geist den Lobpreis sprichst und ein Unkundiger anwe-
send ist, so kann er zu deinem Dankgebet das Amen nicht sagen; denn er versteht
nicht, was du sagst. Dein Dankgebet mag noch so gut sein, der andere hat keinen
Nutzen davon“ (1 Kor 14,16f). Drastisch hält er fest, er wolle „vor der Gemeinde
lieber fünf Worte mit Verstand/Vernunft (nous') reden, um auch andere zu unterwei-
sen, als zehntausend Worte in Zungen stammeln“ (14,19). Höchst eindringlich warnt
er vor einer „im Geist“ ausrastenden Gemeinde: „Wenn also die ganze Gemeinde
sich versammelt und alle in Zungen reden, und es kommen Unkundige oder
Ungläubige hinzu, werden sie dann nicht sagen: Ihr seid verrückt!“ (14,23)
Die deutliche, aber nicht völlig vernichtende Kritik an der Glossolalie im
Direktkontakt zu Gott „im Geist“ verbindet sich mit einer deutlichen Sympathie-
erklärung für den Gebrauch des nous, des Verstandes bzw. der Vernunft, auch in geist-
lichen und gottesdienstlichen Kontexten, sogar im Gebet und in der Doxologie.
Verstand undVernunft sind dabei keine hochkomplizierten, nur durch transzendentale
philosophische Bildungsanstrengungen erreichbare Größen. Sie müssen nicht, wie bei
Kant, durch post-pietistische Läuterungsprozesse hindurch errungen und dann gegen
die Religiosität stabilisiert werden. Nous steht vielmehr schlicht für verstehbare und
mit klaren Uberzeugungsinteressen verbundene Äußerungen. Auch Außenstehende
sollen belehrt werden und überzeugt einstimmen können („Amen sagen“). Emotio-
nale Uberwältigungsversuche, kognitiv oder moralisch, sind keine Markenzeichen
„des Geistes“. Das Profil des Geistes wird also nicht in der abstrakten Entgegenset-
zung gegen „das Fleisch“ erworben und es wird auch nicht in einer wesentlich numi-
nosen oder individualistisch möglichst gegen Außenkontakte abgeschirmten „rein
geistigen“ Gottesbeziehung erkennbar. Es bedarf vielmehr einer reflektierten Wahr-
nehmung und Würdigung des Leibes, um den Geist und seine Wirkstätten im indivi-
duellen und gemeinschaftlichen menschlichen Leben zu erfassen.
II. Die Vieldimensionalität des Leibes
Beachtet man nur die Aussagen des Paulus über den irdischen, verweslichen Leib (1
Kor 15), der uns, wie er sagt, „in der Fremde“ fern von Gott leben lässt (2 Kor 5),
der, von der Sünde beherrscht (Röm 6), auf seine Erlösung und Rettung aus der Ver-
lorenheit und Sterblichkeit wartet (Röm 8), so ist man leicht geneigt, sarx und soma,
Fleisch und Leib einfach miteinander zu identifizieren. Doch obwohl der irdische
Leib fleischlich ist und damit auch an der Hinfälligkeit und den Gefährdungen des
Fleisches Anteil hat, muss er nach Paulus deutlich davon unterschieden werden.
Denn er ist keineswegs nur vom Fleisch, sondern auch von vielfältigen psychischen
und geistigen Kräften geprägt und weist ganz andere Dynamiken auf als das auf seine
Selbsterhaltung ausgerichtete Fleisch.
Paulus sieht den Leib nicht einfach als eine „materiale Instanz und Basis“ an,
die bloßer Träger interessanterer und höherwertiger „Vermögen“ wäre. Der Leib ist
 
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