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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2009 — 2010

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I. Das Geschäftsjahr 2009
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Koch, Anton Friedrich: Die Macht der Antinomie und die normativen Grundlagen der Polis
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https://doi.org/10.11588/diglit.66333#0107
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23. Oktober 2009

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aufaddieren; das Reale ist nicht so, daß es sich vollständig beschreiben ließe. Mittels
der Antinomiethese können wir diese Unmöglichkeit nun als strenge, logische
Unmöglichkeit interpretieren: Eine (per impossibile) vollständige Weltbeschreibung
wäre widerspruchsvoll, was sie beschriebe, daher logisch unmöglich.
Andererseits richtet sich unser Denken wesentlich auch aufs Ganze. Zwei
theoretische Disziplinen haben wir eigens in dieser Absicht begründet, die Philoso-
phie und die Physik. Letztere soll eine Sprache entwickeln, in der das Reale voll-
ständig beschrieben, und eine Theorie, in der es vollständig erklärt werden kann,
abgesichert gegen die Antinomie durch die Mathematik zu dem Preis einer Abstrak-
tion, in deren Folge das leitende Ideal der vollständigen Erfassung unerreichbar ist.
Die Theoriebildung kann sich ihm in einer endlosen Folge von physikalischen
Nachfolgertheorien nur immer weiter annähern.
Die Philosophie andererseits versagt sich die mathematische Abstraktion (und
die experimentelle Bestätigung) und wagt ein ungesichertes Denken in nächster
Nachbarschaft der Antinomie. Seit alters ist sie eine Gratwanderung zwischen dog-
matischer und kritischer Metaphysik. Platon etwa unterscheidet in diesem Sinne die
ironisch so genannte „zweitbeste Fahrt“ (den deuteros plous) seiner Ideenlehre von
der dogmatischen Naturphilosophie der Vorsokratiker. Im gegenwärtigen Zusam-
menhang wäre es schlechte Metaphysik, wenn man das Reale einteilen wollte in
einen Bereich, für dessen Grundlagen die Physik, und einen, für dessen Grundlagen
eine Naturmetaphysik zuständig wäre. Die Subjektivitätsthese ist antidualistisch und
läßt eine solche Aufteilung nicht zu. Kein einzelner Aspekt des Realen entzieht sich
der physikalischen Erforschung, nur alle zusammen. Eine vollständige Erfassung des
Realen wäre widerspruchsvoll, gleichviel ob sie von der Physik oder von der Meta-
physik oder arbeitsteilig von beiden angeboten würde.
II. Folgerungen für die normativen Grundlagen der Polis
Wenn schon die Natur nicht vollständig deskriptiv objektivierbar ist, durch Natur-
gesetze, dann noch viel weniger die menschliche Praxis präskriptiv, durch moralische
oder rechtliche Gesetze. Zwar lassen sich die objektiven und die subjektbezogenen
Anteile des Realen nicht trennscharf auseinanderhalten, aber da die Praxis eine von
Subjekten ist, wird sie dem subjektiven Pol des Realen wesentlich näherstehen als
die Natur. Ihr geringerer Objektivitätsgrad kommt auch prompt zum Vorschein in
der Formulierung praktischer Prinzipien sowohl wie in ihrer Begründung: in der
Formulierung, sofern sie nichtmathematisch ist, in der Begründung, sofern sich
deren Prozeduren nicht annähernd so eindeutig beschreiben lassen wie die Proze-
duren der experimentellen Überprüfung mathematisch formulierter Vorhersagen.
Die Antinomie an dem Grunde unseres Denkens wird sich also im praktischen und
politischen Denken einschneidender bemerkbar machen als in den exakten Wissen-
schaften.
Welche Konsequenzen aus der Antinomiethese und der Subjektivitätsthese
für die politische Philosophie zu ziehen sind, soll nun erwogen werden. Um die
Thematik einzugrenzen, wähle ich als Bezugspunkt den Dialog über „Vorpolitische
 
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