Martin Hengel
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MARTIN HENGEL
(14.12.1926-2.7.2009)
Das Lebenswerk des Neutestamentlers Martin Hengel lässt sich aus zwei wider-
sprüchlichen Blickwinkeln betrachten: Auf der einen Seite hat er auf sein kleines
Fach so tief eingewirkt, dass es durch ihn zu einer anderen Landschaft umgestaltet
wurde, auf der anderen Seite hat er eine uralte Forschungskontinuität erneuert. Die
Auflösung dieses Widerspruchs liegt in der Situation, die er antraf.
M. Hengel beschrieb sie oft in folgender Weise: R. Bultmanns eher systema-
tischtheologische Hermeneutik beherrschte in den 50er Jahren die Diskussion und
verband sich mit einer radikalen Kritik an den synoptischen Evangelien. Die Erin-
nerungen an Jesus galten als Überlieferungen, die durch die sozialen und religiösen
Bedürfnisse urchristlicher Gruppen geformt und verformt waren. Hinter ihnen
wurde durch den Nebel historischer Skepsis nur vage ein unmessianischer Jesus
sichtbar. Dieser Nebel habe sich schon bei Paulus verdichtet, der von Jesus außer dem
„Dass seines Gekommenseins“ kaum etwas gewusst habe und nichts von ihm wis-
sen wollte. Zwischen palästinischer Urgemeinde und hellenistischen Gemeinden
wurde dabei scharf unterschieden: In den hellenistischen Gemeinden außerhalb
Palästinas sei das Urchristentum schnell zu einer synkretistischen Religion gewor-
den, die vom Erlösermythos einer vorchristlichen Gnosis sowie orientalischen
Mysterien beeinflusst war. Paulus und Johannes führten in diesem Milieu die ersten
„Entmythologisierungsprogramme“ durch, mit denen sie sich von der jüdischen
Apokalyptik lösten und die apokalyptische Zukunftshoffnung in existenzielle Impulse
für das gegenwärtige Leben verwandelten. Das Doppelwerk des Lukasevangeliums
und der Apostelgeschichte, das erzählerisch eine Kontinuität zwischen den Anfängen
und seiner Gegenwart herstellte, galt als Ausdruck eines problematischen Früh-
katholizismus, dessen harmonisierender Darstellung man nicht vertrauen dürfe
und dessen historiographische Intention theologisch abzulehnen sei. Diesem Bild
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MARTIN HENGEL
(14.12.1926-2.7.2009)
Das Lebenswerk des Neutestamentlers Martin Hengel lässt sich aus zwei wider-
sprüchlichen Blickwinkeln betrachten: Auf der einen Seite hat er auf sein kleines
Fach so tief eingewirkt, dass es durch ihn zu einer anderen Landschaft umgestaltet
wurde, auf der anderen Seite hat er eine uralte Forschungskontinuität erneuert. Die
Auflösung dieses Widerspruchs liegt in der Situation, die er antraf.
M. Hengel beschrieb sie oft in folgender Weise: R. Bultmanns eher systema-
tischtheologische Hermeneutik beherrschte in den 50er Jahren die Diskussion und
verband sich mit einer radikalen Kritik an den synoptischen Evangelien. Die Erin-
nerungen an Jesus galten als Überlieferungen, die durch die sozialen und religiösen
Bedürfnisse urchristlicher Gruppen geformt und verformt waren. Hinter ihnen
wurde durch den Nebel historischer Skepsis nur vage ein unmessianischer Jesus
sichtbar. Dieser Nebel habe sich schon bei Paulus verdichtet, der von Jesus außer dem
„Dass seines Gekommenseins“ kaum etwas gewusst habe und nichts von ihm wis-
sen wollte. Zwischen palästinischer Urgemeinde und hellenistischen Gemeinden
wurde dabei scharf unterschieden: In den hellenistischen Gemeinden außerhalb
Palästinas sei das Urchristentum schnell zu einer synkretistischen Religion gewor-
den, die vom Erlösermythos einer vorchristlichen Gnosis sowie orientalischen
Mysterien beeinflusst war. Paulus und Johannes führten in diesem Milieu die ersten
„Entmythologisierungsprogramme“ durch, mit denen sie sich von der jüdischen
Apokalyptik lösten und die apokalyptische Zukunftshoffnung in existenzielle Impulse
für das gegenwärtige Leben verwandelten. Das Doppelwerk des Lukasevangeliums
und der Apostelgeschichte, das erzählerisch eine Kontinuität zwischen den Anfängen
und seiner Gegenwart herstellte, galt als Ausdruck eines problematischen Früh-
katholizismus, dessen harmonisierender Darstellung man nicht vertrauen dürfe
und dessen historiographische Intention theologisch abzulehnen sei. Diesem Bild