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Maul, Stefan M.; Maul, Stefan M. [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]
Keilschrifttexte aus Assur literarischen Inhalts (Band 10, Teilband 1): Einleitung, Katalog und Textbearbeitungen — Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.57036#0014
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Einleitung

In dem vorliegenden Werk werden heilkundliche Schriften
aus dem Alten Orient veröffentlicht, die vor weit mehr als
zweieinhalb Jahrtausenden auf Tontafeln niedergeschrieben
wurden und mit dem Untergang der Keilschriftkulturen in
Vergessenheit gerieten. Die hier großenteils erstmals bekannt
gemachten Traktate konfrontieren uns mit dem uralten Wissen
altorientalischer Heiler und geben tiefe Einblicke in ihre
Vorstellung davon, wie Gebrechen und Leiden entstehen und
die grundlegenden Ursachen von Krankheit beseitigt werden
können.
Die in diesem Buch edierten Keilschrifttexte enthalten
Anleitungen zur Heilung eines mämitu ("Bann") genannten
Leidens. Dessen letztes Stadium wird als eine sehr schwere,
lebensbedrohliche Abdominalerkrankung beschrieben,
die von akuten Bauchschmerzen. Abwehrspannung der
Bauchdeckenmuskulatur und starken Veränderungen der
Darmtätigkeit geprägt ist. oft begleitet von Übelkeit. Fieber und
Schweißausbrüchen.
Bereits der Name des Leidens konfrontiert uns mit
Vorstellungen von den Ursachen von Krankheit, die den unseren
fremd sind. Denn das akkadische Wort mämitu bezeichnete
keineswegs allein oder in erster Linie eine Erkrankung.
Vielmehr gehört der Begriff in den Bereich des Rechtswesens.
In juristischem Zusammenhang steht er zum einen für einen
bei den Göttern und dem König geleisteten “Eid”, der im
Alten Orient stets mit einer Selbstverfluchung verbunden
war. Dabei rief ein Eidleistender für den Fall des Eidbruchs
unter Zeugenschaft von Göttern. Richtern oder Beamten.
Arbeitskollegen. Familienmitgliedern oder Nachbarn eine
schwere, im Tode gipfelnde Strafe auf sich und die Seinen
herab, mämitu wurde zum anderen der mit dem deutschen
Wort “Bann” wiedergegebene Zustand der Acht genannt, der
in der Vorstellungswelt des Alten Orients einen Eidbrüchigen
zwangsläufig ereilte und ihm und seiner Familie die Sicherheit
einer von Schutzgöttem gewährleisteten Unantastbarkeit
entzog. Schließlich wurde auch das sich Erfüllen der von dem
Eidleistenden in der Selbstverfluchung beschworenen Strafe
mämitu genannt.1
Der Umstand, daß der rechtskundliche Begriff mämitu auch
als Bezeichnung einer Erkrankung Verwendung fand, zeigt, daß
die altorientalischen Heiler keineswegs das akute, auch in ihren
Augen charakteristische Krankheitsbild als kennzeichnende
Eigenart dieses Leidens betrachteten. Das eigentliche,
tieferliegende Wesen des als “Bann” bezeichneten Leidens sahen

1 Die in der Fachliteratur immer wieder anzntreffende Wiedergabe des
Wortes mämitu mit “Fluch" (englisch: “curse") ist zu unspezifisch und
sollte vermieden werden.

sie vielmehr in einer schweren, letztlich aber noch ungesühnt
gebliebenen Schuld, welche der Erkrankte oder eines seiner
Familienmitglieder durch den Bruch eines Eides oder durch ein
als analog angesehenes Vergehen auf sich geladen hatte. In dem
Leiden, das nach Ansicht der altorientalischen Heiler zunächst
nahezu unbemerkt mit erst allmählich anwachsenden Problemen
und Schwierigkeiten aller Art begann und dann nach und nach
somatische Symptome zeitigte, sah man das Wirken eines
Banns, das im Tod der betroffenen Person gipfeln würde, wenn
man keine Heilmaßnahmen veranlaßte.
Keilschriftliche Rezeptsammlungen, die namentlich aus dem
ersten vorchristlichen Jahrtausend auf uns gekommen sind, be-
legen. daß man die körperlichen Beschwerden, die auf die Ein-
wirkung eines Banns zurückgeführt wurden, mit einer beacht-
lichen Zahl von Medikamenten und Heilmitteln zu bekämpfen
suchte. Darüber hinaus aber konnten mesopotamische Heiler
bereits im ausgehenden zweiten vorchristlichen Jahrtausend für
Studium und Lehre auf keilschriftliche Traktate zurückgreifen,
in denen Therapien beschrieben sind, die man mit dem sume-
rischen Titel nam-erim-bür-ru-da als “Bannlösungsver-
fahren” bezeichnete. Sie verfolgten ein Ziel, das weit über die
Absicht hinausging, einen Patienten von den Symptomen der
Bann-Krankheit zu befreien. Eine Bannlösungstherapie sollte
nämlich in einem möglichst frühen Entwicklungsstadium die
Wirkkraft eines Banns brechen, den betroffenen Patienten von
seiner schweren. Krankheit hervorrufenden Schuld befreien und
zu guter Letzt den Bann ungeschehen machen. Im Mittelpunkt
des Bannlösungsverfahrens stand also der Wunsch, die jenseits
aller Leiblichkeit liegenden Krankheitsursachen grundlegend zu
beseitigen, um auf diese Weise eine nachhaltige Heilung bewir-
ken zu können.
Auf den ersten Blick erscheinen die Mittel und Wege, mit
denen solche Verfahren praktiziert wurden, fern und fremd.
Wohl aus diesem Grund werden entsprechende Traktate
in der zeitgenössischen Altorientalistik nicht etwa der sog.
“Keilschriftmedizin” zugeordnet, sondern gelten lediglich als
“Beschwörungsrituale”. Diese wenig reflektierte Einordnung
folgt altgewohnten Wahmehmungsmustem und führt dazu,
daß man in dem entsprechenden Schrifttum der Heiler
allenfalls religionshistorisch interessante Phänomene, aber
gewiß keine Erkenntnisse erwartet, die unter medizinischen
Gesichtspunkten von einem Interesse sein könnten, das über
das rein Antiquarische hinausgeht. Die Neugier darauf, mit
welchen Mitteln man im Alten Orient heilkundlichen Problemen
wie dem hier aufgezeigten zu Leibe zu rücken versuchte,
bleibt aus diesem Grund selbst unter den medizinhistorisch
interessierten Assyriologen der Gegenwart äußerst begrenzt.
Es werden gleichwohl Zeiten kommen, in denen man - befreit
 
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