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Maul, Stefan M.; Maul, Stefan M. [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Keilschrifttexte aus Assur literarischen Inhalts (Band 10, Teilband 1): Einleitung, Katalog und Textbearbeitungen — Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.57036#0032
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Einleitung

19

und mit seinen den Menschen offenbarten Worten und Taten
alle Übel in ihre Schranken zu verweisen vermag.248 Bei der
Behandlung eines Patienten betrachtete sich ein altorientalischer
Heiler als Asalluhis Stellvertreter, durch den der Gott selbst
spricht und handelt.249 Die über allem stehende, letztlich
unbezwingbare Befehlsgewalt des Gottessohnes ging in der
zugrundeliegenden Vorstellungswelt deshalb auf einen Heiler
über. Ein beachtlicher Teil der den Bannlösungsverfahren
zugeschriebenen Wirkmacht fußt auf diesem Gedanken.
Die Bannlösungsverfahren sind von dem Ansinnen getragen,
dem zu behandelnden Unheil eine ansprechbare Gestalt zu
verleihen. Hierfür mußte das nicht Sichtbare bildhaft werden,
das nicht Faßbare leibhaftige Gestalt gewinnen. Wie ein Gott,
dessen Wesen im Götterbild Form annimmt, sollte im Rahmen
der Therapie der auf dem Menschen lastende Bann in einem
Tonfigürchen inkamieren. Im Hier und Jetzt sollte er zu einem
körperhaften Gegenüber werden, um dem Heiler zu ermöglichen,
mit dem Übel des Banns in eine direkte Kommunikation
einzutreten und es dann mit göttlicher Macht zurückzudrängen.
”Mit der Autorität des Ea und den Künsten des Asalluhi”250
brachte der Heiler den zu bekämpfenden Bann ins Sein. Nach
göttlicher Weisung formte er ihn aus Ton.251 also aus jener wieder
zu Erde zerfallenden Materie, aus der den mesopotamischen
Überlieferungen zufolge auch der erste Mensch gebildet worden
war. In dem am frühen Morgen vollzogenen Schöpfungsakt
fließen in sinnfälliger Weise die mythische Zeit des Uranfangs
und der Zeithorizont der Gegenwart ineinander. Indem er den
bereits wirkenden Bann erschafft und zum Leben erweckt, wie
einst es die Götter taten.252 greift der Heiler machtvoll in jene
zurückliegende Zeit ein. in der der Urgrund des in der Therapie
zu bekämpfenden Übels entstand. Mit dem Schöpfungsakt geht
der Heiler in der Zeit zurück und wiederholt in gewisser Weise
den vergangenen Moment, in dem der zu lösende Bann entstand.
Durch diese ‘Reise in die Zeit’ erlangt er Macht über das
Vergangene und bereits Geschehene.253 Als sein Schöpferkann der
Heiler das Übel leiten.254 ihm mit dem allmächtigen Gotteswort
befehlen und sein Werden in Vergangenheit. Gegenwart und
Zukunft lenken. Ziel eines jeden Bannlösungsverfahrens war es.
das ‘‘Abbild des Banns” und damit den Bann selbst rückwirkend
248 Siehe dazu S. M. Maul. BaF 18. 41 und ders.. in: A. Kablitz. C. Markschies
(Hrsg.). Heilige Texte. 11-24.
249 Aus dem Ä«-/u/-'Leitfaden' (LKA 91. Vs. 4; siehe E. Reiner. Surpu.
11) wissen wir. daß der Heiler mit der Rezitation der sumerischen
Beschwörung gä-e lü kü-ga-me-en (“Ich bin der Reine”) in seine
Rolle als Stellvertreter des Asalluhi eintrat. Dieselbe Beschwömng hatte
der Heiler auch in dem HT ul Tde genannten Verfahren zu rezitieren (siehe
KAR 90. Vs. 16). Auch wenn dies an keiner Stelle eigens erwähnt ist.
erscheint es durchaus möglich, daß die sumerische Beschwömng “Ich bin
der Reine” zum Auftakt exorzistischer Handlungen auch im Rahmen der
Bannlösungsverfahren rezitiert wurde.
250 So Text Nr. 3. 23.
251 Siehe Text Nr. 1-2. 3’; Text Nr. 3. 13 und 23-24; Text Nr. 4-10. 2; Text
Nr. 11. 10; Text Nr. 14-15. 8; Text Nr. 46—17. 47. Die Beschreibungen der
Bannlösungsverfahren lassen weder erkennen, welche Größe ein solches
anthropomorphes “Bild des Banns” besaß, noch ob es - wie naheliegt -
ziegenköpfig gestaltet war (siehe dazu oben Anm. 45).
252 Zur Vorstellung von der Erschaffung des Banns im Uranfang siehe Text
Nr. 4-10. 65-68.
253 In Text Nr. 4-10. 42—13 ist dieses Eingreifen in die Vergangenheit als ein
von dem Heiland Asalluhi vollzogener Akt beschrieben: “Asalluhi. der
große Beschwörer der Götter. / betrachtete den Bann. Dann wendete er
den Bann zurück (zum Guten).”
254 Siehe hierzu den Kommentar zu Text Nr. 1-2. 8' sowie Text Nr. 3. 66-71;
Text Nr. 14-15. 2'-!' und S. M. Maul. BaF 18. 302. Z. 28 und ebd.. 424f„
Z. 39-42.

unschädlich zu machen, die von ihm ausgehende, in Unglück und
Krankheit auskristallisierende Kontamination zu unterbinden
und auf ihn selbst zurückzuführen. Der Bann sollte so der Welt
zum Greuel werden. Zu Tode gebracht.255 bestattet und der
Unterwelt, dem “Land ohne Wiederkehr”, übergeben.256 sollte
sein tönernes ‘Fleisch’257 wieder zu Staub zerfallen. Bei diesem,
die Bannlösungsverfahren ganz wesentlich bestimmenden
Ansinnen ist der Blick auf den den Gott vertretenden Heiler
und das zu bekämpfende Unheil gerichtet, während der
Patient, um dessentwillen man die Behandlung durchführte,
ebenso wie dessen Schuld kaum Beachtung fand. Die im
Wortlaut festgelegten, auf Asalluhi selbst zurückgeführten
exorzistischen dicenda, die ein Heiler in diesem Zusammenhang
an den personifizierten Bann zu richten hatte, haben befehlenden
Charakter (imprekativer Exorzismus).
Andere Exorzismen jedoch sind fürbittender Natur
(deprekativer Exorzismus). Diese Rezitationen sind oft an den
Sonnengott Samas gerichtet, den "Herrn des Rechts und der
Gerechtigkeit”.258 Sie bilden das Herzstück eines weiteren
konstitutiven Handlungsstrangs der Bannlösungsverfahren, der
nicht das Unheil und die ihm überlegene göttliche Macht, son-
dern das personifizierte Übel und den von ihm geplagten Pati-
enten in den Mittelpunkt stellt. In einem im Haus des Patienten
regelrecht in Szene gesetzten Gerichtsverfahren vor dem Son-
nengott müssen beide einander gegenübertreten. Sie sollen einen
Rechtsstreit austragen, der zugunsten des Patienten ausgehen
und die Voraussetzung für eine Bannlösung schaffen soll. Die
Rezitationen fürbittenden Charakters, mit denen sich der Heiler
im Namen seines Patienten an die Sonne, den göttlichen Richter,
wendet, nehmen in dem in Szene gesetzten Gerichtsverfahren
die Stelle einer Verteidigungsrede ein.259 Darin wird in der Regel
zum einen dargelegt, daß der Bann sein Recht auf das Leben des
betroffenen Menschen verwirkt habe, weil er durch verschiedene
zuvor dargebrachte Gaben und Zuwendungen, durch Ersatzleis-
tungen oder ein ihm übereignetes Wergeid260 bereits entschädigt
worden sei. Zum anderen sind die Reden an den Sonnengott von
den Bitten geprägt, dem Patienten Recht zu gewähren und ihn
von weiterer Strafe zu verschonen. Darüber hinaus lassen in der
szenischen Darstellung der Gerichtsverhandlung subtile Zeichen
keinen Zweifel daran, daß der personifizierte Bann die Position
des Unterlegenen und der Patient die des Obsiegenden einzu-
nehmen hat.261 So steht die Narrative vom Rechtsaustrag nur
255 Therapieanweisungen sehen vor. das Figürchen eines Banns zu erdolchen
(siehe Text Nr. 46-47. 47-50). Siehe auch Text Nr. 48-51. 66 mit der
Vorschrift, ein Bannfigürchen, das gleichzeitig als Substitut des Patienten
galt, mit einem Beil zu erschlagen und dann zu zerbrechen (vgl. den
Kommentar zu Text Nr. 48-51. 69a).
256 Siehe Text Nr. 46-47 sowie Text Nr. 1-2. 24”-27”; Text Nr. 3. 77-78;
Text Nr. 4-10. 13”-14”.
257 Aus Text Nr. 48-51. 46 geht hervor, daß die in einer Therapie verwendeten
Tonfigürchen ein Skelett aus Holz und Rohr besitzen konnten, das mit Ton
ummantelt wurde.
258 TextNr. 1-2.12’und 20"; Text Nr. 3.23 und 72; Text Nr. 4—lü. 6" und pas.s/m.
259 Ein repräsentatives Beispiel findet sich in Text Nr. 3. 22-48.
260 Zu dem einem Bann übereigneten Wergeid siehe Text Nr. 1-2. 8' und den
zugehörigen Kommentar mit dem Verweis auf weitere Belege.
261 Hierzu zählt, daß der Heiler das Bannfigürchen dem Richtergott anklagend
entgegenhielt (siehe z. B. Text Nr. 3. 21). seinen Patienten aber bei der
Rezitation der Verteidigungsrede' vor dem Sonnengott an die Hand
nahm (siehe S. M. Maul. BaF 18. 67) und ihn auf zuvor ausgestreuten
Substanzen stehen ließ, die die Verunreinigung des Kranken aufnehmen
und damit auch seine Kennung als Gebannter von ihm nehmen sollten
(siehe den Kommentar zu Text Nr. 16-26. 1 sowie Text Nr. 27-33. 74-75
mit dem zugehörigen Kommentar).
 
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