Einleitung des Herausgebers
XIX
sprach, war auch zeitbedingt, aber nicht nur und nicht hauptsächlich. Ihre Wurzeln
reichten tiefer, wie aus einer für Jaspers auffallend persönlichen Äußerung in einem
Brief an Jean Wahl hervorgeht: »Dass in meiner Philosophie ein Heimweh spreche
nach einem Verlorenen, dass in ihr ein Echo Wiederklinge der Religion, würde ich nicht
leugnen. Aber ich glaube dieses Heimweh in aller Philosophie zu spüren, die im Schat-
ten Platos und Kants steht, dieser aus so grossem Heimweh Suchenden und Erinnern-
den. Wer möchte nicht im innersten Herzen, dass der leibhaftige Gott zu ihm wie zu
einem Kinde spräche, selbst wenn wir wissen, dass die Gottheit grade dadurch, dass
sie uns dieses versagte, uns erst als Menschen in unserer Freiheit möglich machte
(Kant) .«54 Vor dem Hintergrund dieser Eröffnung erschien das philosophische Den-
ken als der Versuch, das unwiederbringlich Verlorene in anderer Form wiederzugewin-
nen. Allerdings konnte das nur gelingen, wenn das unwiederbringlich Verlorene im
Heimweh des philosophischen Glaubens noch als es selbst, als unwiederbringlich Ver-
lorenes, gegenwärtig war und eine motivierende Kraft entfaltete. Darüber schwieg sich
Jaspers in dem Brief an Wahl verständlicherweise aus. In einem autobiographischen
Text aus derselben Zeit deutete er aber an, wo er mit der Religion in Berührung gekom-
men war: in den biblischen Geschichten »von den jüdischen Patriarchen im märchen-
haften Lande Kanaan, von dem Haine Mamre, den Oasen, den Wüsten«, die er in der
Vorschule gehört hatte. Sie »gaben mir ein Bewußtsein vom Zusammenhalt der Dinge
und der Tiefe der Autorität, aus der sie uns gelehrt wurden, wie ich sie später nie wie-
der erfahren habe«.54 55 Mit zunehmendem Alter wurde es Jaspers immer wichtiger, auf
diese prägenden Eindrücke hinzuweisen, denn für das Verständnis seines Philosophie-
rens waren sie wesentlich. So schrieb der 70-Jährige über diesen frühen Unterricht:
»Unwillkürlich wurden Vorstellungen in das Gemüt des Kindes gelegt, die, obgleich
ohne sonderliche augenblickliche Wirkung, doch nicht vergessen wurden.«56 Der
80-Jährige unterstrich diese frühe Prägung noch einmal: »Ich fühle noch, was ich als
/jähriger Junge in der Vorschule in der Stunde, die Biblische Geschichte hieß (nicht
etwa Religionsunterricht), erfuhr. Ich spüre noch die Energie in der Einfachheit des-
sen, was hier gesagt wurde. Es prägte sich unauslöschlich tief ein.«57
Bezeichnenderweise kam es Jaspers in dieser Erinnerung auf den ausdrücklichen
Hinweis an, dass der Vorschulunterricht kein Religionsunterricht im herkömmlichen
Sinne gewesen war. Die Kinder wurden nicht im christlichen Glauben erzogen. Orga-
nisatorisch war das Oldenburger Schulwesen zum damaligen Zeitpunkt bereits seit
54 K. Jaspers an J. Wahl, 30. Januar 1938, DLA, A: Jaspers (Durchschlag). - Vgl. die folgende Formu-
lierung: »Du musst wissen, dass ich [...] sehr leide, nicht Euch allen das sagen zu können, um was
ich mich philosophisch bemühe und bisher nicht erreiche. Es ist dasselbe, das Du als den Schmerz
der Ferne von der Religion erfährst.« (K. Jaspers an E. Dugend, 18. April 1924, ebd.)
55 K. Jaspers: »Elternhaus und Kindheit«, 57.
56 K. Jaspers: Philosophische Autobiographie, 112.
57 K. Jaspers: Philosophie und Offenbarungsglaube, in diesem Band, S. 539.
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sprach, war auch zeitbedingt, aber nicht nur und nicht hauptsächlich. Ihre Wurzeln
reichten tiefer, wie aus einer für Jaspers auffallend persönlichen Äußerung in einem
Brief an Jean Wahl hervorgeht: »Dass in meiner Philosophie ein Heimweh spreche
nach einem Verlorenen, dass in ihr ein Echo Wiederklinge der Religion, würde ich nicht
leugnen. Aber ich glaube dieses Heimweh in aller Philosophie zu spüren, die im Schat-
ten Platos und Kants steht, dieser aus so grossem Heimweh Suchenden und Erinnern-
den. Wer möchte nicht im innersten Herzen, dass der leibhaftige Gott zu ihm wie zu
einem Kinde spräche, selbst wenn wir wissen, dass die Gottheit grade dadurch, dass
sie uns dieses versagte, uns erst als Menschen in unserer Freiheit möglich machte
(Kant) .«54 Vor dem Hintergrund dieser Eröffnung erschien das philosophische Den-
ken als der Versuch, das unwiederbringlich Verlorene in anderer Form wiederzugewin-
nen. Allerdings konnte das nur gelingen, wenn das unwiederbringlich Verlorene im
Heimweh des philosophischen Glaubens noch als es selbst, als unwiederbringlich Ver-
lorenes, gegenwärtig war und eine motivierende Kraft entfaltete. Darüber schwieg sich
Jaspers in dem Brief an Wahl verständlicherweise aus. In einem autobiographischen
Text aus derselben Zeit deutete er aber an, wo er mit der Religion in Berührung gekom-
men war: in den biblischen Geschichten »von den jüdischen Patriarchen im märchen-
haften Lande Kanaan, von dem Haine Mamre, den Oasen, den Wüsten«, die er in der
Vorschule gehört hatte. Sie »gaben mir ein Bewußtsein vom Zusammenhalt der Dinge
und der Tiefe der Autorität, aus der sie uns gelehrt wurden, wie ich sie später nie wie-
der erfahren habe«.54 55 Mit zunehmendem Alter wurde es Jaspers immer wichtiger, auf
diese prägenden Eindrücke hinzuweisen, denn für das Verständnis seines Philosophie-
rens waren sie wesentlich. So schrieb der 70-Jährige über diesen frühen Unterricht:
»Unwillkürlich wurden Vorstellungen in das Gemüt des Kindes gelegt, die, obgleich
ohne sonderliche augenblickliche Wirkung, doch nicht vergessen wurden.«56 Der
80-Jährige unterstrich diese frühe Prägung noch einmal: »Ich fühle noch, was ich als
/jähriger Junge in der Vorschule in der Stunde, die Biblische Geschichte hieß (nicht
etwa Religionsunterricht), erfuhr. Ich spüre noch die Energie in der Einfachheit des-
sen, was hier gesagt wurde. Es prägte sich unauslöschlich tief ein.«57
Bezeichnenderweise kam es Jaspers in dieser Erinnerung auf den ausdrücklichen
Hinweis an, dass der Vorschulunterricht kein Religionsunterricht im herkömmlichen
Sinne gewesen war. Die Kinder wurden nicht im christlichen Glauben erzogen. Orga-
nisatorisch war das Oldenburger Schulwesen zum damaligen Zeitpunkt bereits seit
54 K. Jaspers an J. Wahl, 30. Januar 1938, DLA, A: Jaspers (Durchschlag). - Vgl. die folgende Formu-
lierung: »Du musst wissen, dass ich [...] sehr leide, nicht Euch allen das sagen zu können, um was
ich mich philosophisch bemühe und bisher nicht erreiche. Es ist dasselbe, das Du als den Schmerz
der Ferne von der Religion erfährst.« (K. Jaspers an E. Dugend, 18. April 1924, ebd.)
55 K. Jaspers: »Elternhaus und Kindheit«, 57.
56 K. Jaspers: Philosophische Autobiographie, 112.
57 K. Jaspers: Philosophie und Offenbarungsglaube, in diesem Band, S. 539.